Hegelwoche: Germanist spricht über europäische Identität

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Nicholas Boyle Fotos: Barbara Herbst
Nicholas Boyle Fotos: Barbara Herbst
 
 
 
 
 
 
 

Mit der Konzentration auf den reinen Geist versuchte sich der Germanist Nicholas Boyle der europäischen Identität zu nähern.

Es sind die Einführungen des Christian Illies, die den Besuch der Hegelwoche auch bei Vorträgen, die zum Widerspruch reizen - was sie auch sollen -, lohnend machen. Einzigartig ist es, wie es der Philosophie-Ordinarius der Bamberger Universität versteht, mit trockenem Humor und mehr als einem Hauch Selbstironie seine Profession und die seiner Gäste den Zuhörern nahezubringen. Am Donnerstag nannte er die Philosophie in der Aula der Universität eine "Trümmerwissenschaft" zwischen der Hegel'schen Eule der Minerva und dem Marx'schen Schmettern des gallischen Hahns, ortete "europäische Zuckungen" als Oszillationen zwischen letztem Todeskampf und Presswehen. Was macht die europäische Identität aus? Gibt es eine solche überhaupt?, waren die Erkenntnis leitenden Fragen an diesem Abschlussabend der 28. Bamberger Hegelwoche, die sich thematisch von der individuellen über die deutsche bis zur europäischen Identität emporgeschraubt hatte, in diesem Sinne einem Hegel'schen Weltgeist folgend.
Diesen Kurs verfolgte auch der Referent des Abends, der britische Literaturwissenschaftler Nicholas Boyle (71), der vor allem durch eine noch unvollendete monumentale Goethe-Biografie bekannt geworden ist. Dankenswerterweise nannte er gleich zu Beginn seines Vortrags - nach einem Rekurs auf das Europa Hegels - den Bezugspunkt seiner Ausführungen: Es ist der französische Religionsphilosoph Rémi Brague mit seinen Thesen zur "exzentrischen Identität" und "Sekundarität" Europas.


Schwerter zu Pflugscharen

Was meint, dass dem westlichen, römisch-katholischen Europa eine lange Vorgeschichte vorausging. Die Geburt des europäischen Geistes sei auf das Jahr 721 v. Chr. zu beziffern, als Sargon II. den assyrischen Königsthron usurpierte. Durch seine Eroberungskriege fiel Jerusalem eine neue Rolle zu; Boyle zitierte die alttestamentarischen Propheten Micha und Jesaja mit dem bekannten Wort von den Schwertern, die Pflugscharen werden sollten. Das Prinzip des ethischen Universalismus sei geboren worden, ebenso das der Säkularität, der Trennung von geistiger und weltlicher Macht. Die jüdische Kultur habe die hellenische befruchtet, diese wiederum die römische, bis mit dem römischen Kaiserreich so etwas wie ein Protoeuropa entstanden sei, fortgesetzt durch die Christianisierung mit fortwährender Aneignung des Fremden - eben der Sekundarität.
Weitere Marksteine europäischer Geistesgeschichte sind für Boyle die Chroniken des Eusebius von Cäsarea (ca. 325 n. Chr.) und des Bamberger Bischofs Frutolf von Michelsberg (ca. 1100 n. Chr.), Zeittafeln als "geniale Erfindung", Garanten geistiger Einheit vom Weltanfang bis Weltende, eine "ethisch fundierte Weltgeschichte mit einheitlicher Zeitrechnung" für Westasien.
Boyle kam zurück zu Hegel, der den Geist Europas als einen Geist der Vermischung bestimmt habe, und: Der europäische Geist sei nicht auf eine bestimmte Region der Erde beschränkt. Was ist nun der europäische Geist? Gerechtigkeit für alle, führte der Referent an, Säkularität und Freiheit, die auch als Prinzipien einer Weltordnung dienen könnten. Freilich sei ein fiktiver Weltstaat eine "chiliastische Idee", schätzte Boyle ein, wenn auch die supranationalen Institutionen der EU ein Modell für die ganze Welt abgäben, Europäer als "werdende Weltbürger".
Boyle schrieb mit seinem Mentor Brague reine Geistesgeschichte. Man fühlte sich schmerzlich an Marx erinnert, der Hegel vom Kopf auf die Füße stellen wollte, sprich die Überlegungen des Philosophen materialistisch erden. Ökonomie bleibt in dieser Geschichtsphilosophie außen vor, Klimageschichte auch, geschweige denn die Geschichte von Klassenkämpfen. Frei schwebende Meditationen über europäischen Geist, Freiheit, gegenseitige Befruchtungen und Amalgamierungen. Das blieb unverbindlich wie die Aufsätze von Carolin Emcke und war ebenso tauglich für die Paulskirche.
Als Nicholas Boyle zuletzt einen "kleinen praktischen Vorschlag" unterbreitete, sich nämlich so wie die Briten in ganz Europa am 11. November eine Remembrance Poppy anzustecken, eine Mohnblume zum Gedenken an die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs in Nordfrankreich, weil die Europäer "durch das Blut unserer Vorfahren miteinander verbunden" seien, lappte das nahezu ins Naive. Dennoch erntete der Redner, der nur ganz kurz den Brexit als "Verweigerung der Zukunft" streifte, großen Applaus.