• Ukrainische Kinder und Jugendliche sind in bayerischen Schulen angekommen
  • Unzufriedenheit mit der Schulpolitik in Bayern
  • Die Situation an den Schulen in Bayern
  • Bedarf an Lehrkräften, um notwendige Initiativen zu starten
  • Aktuelle Situation nach dem Ende der Test- und Maskenpflicht

Simone Fleischmann, Präsidentin des BLLV, sieht die Schulen mittendrin im Strudel von drei Krisen: Neue Schüler*innen aus der Ukraine, Lehrkräfte und Schüler*innen leiden noch unter den Folgen von Corona und das vom Verband sehnlich erwünschte professionelle zusätzliche Personal ist weit und breit nicht in Sicht. Fleischmann zieht eine schonungslose Bilanz zur Lage der Schulen in Bayern.

inFranken.de: Ukrainische Kinder und Jugendliche sind in bayerischen Schulen angekommen: Können Sie einschätzen, wie viele das sind?

Simone Fleischmann: "Da verlassen wir uns auf die Angaben aus dem Kultusministerium: Danach gab es zuletzt 15.000 Schüler*innen, in 600 Willkommensgruppen und 1.800 Kräfte, die diese Gruppen betreuen. Viele Schüler sind, bei ausreichenden Sprachkenntnissen, auf die Regelklassen aufgeteilt. Insgesamt erwarten wir für den Herbst drei Prozent mehr Schüler*innen, bundesweit wären das bis zu 400.000 Schüler*innen. Wo all die Lehrerinnen und Lehrer dafür herkommen sollen, ist unklar. Zusätzlich gibt es die Erwartung, dass ukrainische Schüler*innen mit ihren Computern am Distanzunterricht in der Ukraine teilnehmen sollen."

Was fordern Sie für diese Schüler*innen?

"Ob das Betreuungspersonal bei den Willkommensgruppen fachlich ausreichend qualifiziert ist, um Kinder mit Traumata zu betreuen, lasse ich mal dahingestellt. Wenn wir mit Nicht-Pädagogen, mit oftmals Gutwilligen arbeiten müssen, die aber nicht wissen, wie man diesen Kindern individuell gerecht wird, dann ist das schwierig."

Warum sind Sie unzufrieden mit der Schulpolitik im Land Bayern?

"Wir als Lehrerverband erwarten durchgreifende Verbesserungen in vielen Feldern: bei der ganzheitlichen Bildung, der Inklusion, mehr Zeit für Bildung. Eines haben alle Punkte gemeinsam: mit einer ‘Schmalspurversorgung bei den Lehrkräften können wir die Probleme nicht lösen."

Sie sagen, „so schwierig, wie es jetzt ist, war es noch nie“ – woran machen Sie das fest?

"Die Lage ist wirklich dramatisch, wir sind mittendrin im Strudel von drei Krisen: Viele neue Schüler*innen aus der Ukraine kommen hinzu, wir leiden alle noch unter den Folgen von Corona und das von uns sehnlich erwünschte professionelle zusätzliche Personal ist weit und breit nicht in Sicht."

Wird die Situation an den Schulen in Bayern durch den Staatsminister für Bildung schöngeredet?

"Vor Corona war das üblich, da gab es angeblich einfach keinen Lehrermangel. Inzwischen hat selbst die Staatsregierung erkannt, dass es so nicht weitergeht und die Belastungsgrenze erreicht ist. Wir haben einen eklatanten Lehrermangel an den Grund-, Mittel- und Förderschulen. Die umfassenden und ganzheitlichen Bedürfnisse, die bei den Schüler*innen durch die Corona-Ausfälle entstanden sind, konnten wir bislang nicht kompensieren. Jetzt haben wir auch noch die große Herausforderung, die Kinder der Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine aufzunehmen und willkommen zu heißen – ich kann nur sagen, die Schulen in Bayern sind weit über ihre Grenzen gegangen, uns geht wirklich die Luft aus."

Gibt es eine belastbare Zahl, die den Lehrermangel beschreibt?

"Die genaue Zahl der fehlenden Lehrkräfte zu ermitteln ist wahrlich nicht einfach: Wir hatten vor den Osterferien im Grund- und Mittelschulbereich einen Krankenstand beim Lehrpersonal von 15 Prozent, der Unterrichtsausfall lag aber nur bei 0,7 Prozent. Die Lehrerinnen und Lehrer fangen alle Defizite irgendwie auf: dann unterrichtet halt eine Lehrerin parallel in zwei Klassen. Als ich selbst Schulleiterin war, habe ich auch schon einfach mal so drei Klassen in der Aula bespaßt – professionellen Unterricht kann man das natürlich nicht nennen. Wir fangen alles irgendwie auf, was dieser Lehrermangel in Bayern alles so verursacht."

Aber sie haben doch 1.000 neue Lehrerstellen pro Jahr zusätzlich bekommen?

"Ja, es gibt Personal für das Förderprogramm „gemeinsam.Brücken.bauen“, das zum Ausgleich pandemiebedingter Nachteile für Schüler*innen aufgesetzt ist. Und ja, es gibt Personal für die Willkommensgruppen für die Kinder aus der Ukraine. Aber das Personal für diese Sondermaßnahmen reicht hinten und vorne nicht. Noch vor den Osterferien wurden viele Kinder nach Hause geschickt, weil Lehrer*innen fehlten. Die Lage vor Ort ist sehr unterschiedlich: Manchmal sind alle Stellen für die Klassenleitungen besetzt, es gibt Fachlehrkräfte und der Förderlehrer ist ebenfalls im Einsatz. Also alles paletti. Dann gibt es aber andere Schulen, da ist Land unter: da sind sechs Klassenleitungen krank, es gibt kein Zusatzpersonal und die Förder- und Fachlehrer*innen übernehmen Aufgaben der Klassenleitungen. In diesen Schulen kann auch mal der Hausmeister Kinder beaufsichtigen und die Schulleiter*innen führen drei Klassen gleichzeitig."

Aber es braucht doch Transparenz bei den Bedarfszahlen für Lehrkräfte, um die notwendigen Initiativen zu starten?

"Da gibt es viele Zahlen, aber nichts Offizielles und Belastbares. Der Kultusminister legt sich da nicht fest, weil er sonst eingestehen müsste, dass er der Staatsaufgabe Bildung aktuell nicht umfassend gerecht wird. Das geht doch so weit, dass Schulleiter*innen sich irgendwelche Menschen mit dem Lasso fangen, damit überhaupt jemand vor der Klasse steht. Überall im Land geht es darum, die Löcher im System mit Nicht-Pädagogen zu stopfen. Ich gehe so weit zu sagen, dass der Lehrkräftemangel kaschiert wird, und das systematisch."

Können Lehrer*innen den Kindern und Jugendlichen noch gerecht werden?

"Daran zweifeln die Eltern; und das zu Recht. Die Eltern stellen fest, dass oft nicht ausgebildete Lehrer die Kinder unterrichten. Eltern fragen sich, warum die Kinder schon so oft nach der zweiten Unterrichtsstunde nach Hause kommen. Sie beklagen, dass die Lücken bei ihren Kindern von Nichtpädagogen geschlossen werden sollen. Und freilich gibt es umfassende Kompetenz-Defizite bei den Schülerinnen und Schülern. Aber ebenso auch in der emotionalen und sozialen Entwicklung. Es fehlt die Teamerfahrung, bei den Soft-Skills mangelt es."

Werden die Defizite bis zu den Sommerferien ausgeglichen?

"Jedenfalls ist der Druck groß, gerade jetzt in den letzten Wochen vor den Sommerferien möglichst viele Lücken zu schließen. Wir erleben jeden Tag, dass Schüler*innen aus der dritten Klasse nicht gut sind im Schreiben, Lesen und Rechnen. Und die Eltern machen Druck, weil in der vierten Klasse der Übergang ins Gymnasium ansteht."

Neue Aufgaben kann Schule also nicht übernehmen?

"Einfach draufpacken, das wollen viele Politiker: Durch Corona haben manche Kinder an Fitness verloren, deshalb sei es angebracht, mehr Gesundheitserziehung zu machen. Außerdem hätten viele Kinder nicht Schwimmen gelernt, deshalb seien Zusatz-Lernprogramme angesagt. Fake-News nehmen überhand, es braucht also eine andere Medienerziehung - die Add-Ons, die wir so einfach mal übernehmen sollen, die häufen sich. Manches würden wir gerne machen, aber ohne ausreichendes und professionelles Personal funktioniert das nicht."

Was meinen Sie, wenn Sie sagen, dass die Lehrkräfte „mit Herz und Haltung“ ihre Aufgaben wahrnehmen?

"Ja, der Beruf ist auch eine Frage der Haltung, der Einstellung. Viele Lehrkräfte sagen, Selbstverständlich integriere ich die drei ukrainischen Kinder, die nehme ich noch dazu. Jetzt habe ich 27 Kinder in der 8. Klasse am Gymnasium, dann füllen wir halt auf 30 auf’. Diese Haltung des Herzens hat aber schwerwiegende Folgen. Wenn wir dann noch ein Trisomie-21-Kind integrieren sollen, aber dazu nicht die Kompetenz haben, dann werden wir den Kindern nicht gerecht. Ein Schulbegleiter wäre angesagt, ist aber nicht verfügbar. Unterstützung aus dem Förderzentrum wäre dringend notwendig, leider aber auch Fehlanzeige. Also ich will sagen: Viele Lehrkräfte machen das für die Kinder, aus Überzeugung. Das ist die pädagogische Falle, in die wir immer wieder tappen, obwohl die Bedingungen es nicht hergeben."

Viele Lehrkräfte haben also trotz aller Widrigkeiten die richtige Einstellung?

"Ja, sie machen es aus einer Haltung heraus, nicht wegen der Bezahlung. Gerade an den Grund- und Mittelschulen ist die Eingruppierung im Vergleich zu anderen Schulformen unfair. Sie verdienen deutlich weniger als die Kolleg*innen an den Realschulen und Gymnasien. Nicht verschweigen will ich aber, dass es unter den Lehrkräften viele Burnout-Fälle gibt. Und die Zahl von 70 Schulleitern*innen, die im letzten Jahr hingeschmissen haben, sagt ja auch einiges aus."

Was stört sie an den Corona-Lockerungen in den Schulen?

"Das ist verbunden mit viel Unsicherheit bei Schülern, Eltern und Lehrkräften. Die Angst ist groß, dass es weiterhin viele Corona-Fälle an den Schulen gibt. Und wenn Klassenzimmer überfüllt sind, weil die zweite Lehrkraft fehlt, dann ist das Risiko objektiv viel zu groß."

Was erwarten Sie jetzt, nachdem die Test- und Maskenpflicht gefallen ist?

"Natürlich wollen wir alle Unterricht ohne Maske, ohne Abstand und kein Testregime mehr. Aber die Lehrkräfte raten zur Vorsicht. Das führt selbstredend zu Konflikten mit Eltern und Schülern. Diese Situation ist durch die Zurücknahme der Corona-Regeln nicht einfacher geworden."

Ist die Gesundheit der Schüler und der Lehrkräfte gefährdet?

"Wir hatten vor den Osterferien so viele an Corona erkrankte Lehrkräfte wie nie zuvor. Gleichzeitig verkündet der Ministerpräsident, dass das Oktoberfest stattfindet. Das Signal ist also klar: Es soll wieder Normalität herrschen. Viele verstehen dann nicht, warum die Schulen noch so zögerlich sind. Aber eigentlich ist das ganz einfach zu erklären: Die vermeintliche Normalität ist bei uns einfach noch nicht angekommen."

Was erwarten Sie für den Herbst 2022?

"Da holt uns wieder ein, was wir in den Corona-Vorjahren erlebt haben: Freilich haben wir einiges trainiert. Abstand halten, Maske tragen und Testen, das können wir. Soll das wiederkommen? Reicht das aus? Wenn die Corona-Killermutation wirklich kommt, wie es Gesundheitsminister Karl Lauterbach prognostiziert, dann sind wir zum dritten Mal flächendeckend nicht gut ausgestattet für das Lernen zu Hause. Wir sind zwar vielerorts besser geworden, aber es gibt sie immer noch, die schlechten WLAN-Verbindungen. Lehrkräfte müssen nach Hause fahren, um Unterricht digital anzubieten. Kinder haben noch kein Endgerät. Wir sind weit davon entfernt, einen wirklich professionellen Distanzunterricht anzubieten. Defizite gibt es in der Ausstattung, in der Professionalität und in der konkreten flächendeckenden Umsetzung. Wir können also nur hoffen, dass vielleicht doch die Normalität eintritt. Oder gibt es eigentlich gar keine Normalität mehr?"

Wer ist Simone Fleischmann?

Simone Fleischmann ist seit sieben Jahren Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV), dem mit rund 67.000 Mitgliedern größten Bildungsverband in Bayern. Ausgebildet ist sie für das Hauptschullehramt und als Schulpsychologin. Nach dem Studium war sie einige Jahre als Hauptschullehrerin in Feldkirchen und später dann als Konrektorin und Schulleiterin an der Anni-Pickert Grund- und Mittelschule in Poing tätig. Schon als kleines Mädchen, so wird kolportiert, saß Simone Fleischmann lieber bei ihrem Vater mit in der Klasse, als nebenan in den Kindergarten zu gehen.