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Ukraine-Krieg: Ist ein langer Krieg der eigentliche Plan? Expertin erklärt "Boa Constrictor"-Strategie


Autor: Io Görz

Deutschland, Dienstag, 24. Mai 2022

Der russische Angriffskrieg in der Ukraine ist ins Stocken geraten. So ist der allgemeine Tenor. Doch stimmt das? Eine Expertin erklärt, dass die "Boa Constrictor"-Strategie dennoch oder gerade deswegen aufgehen könnte. Ist Russland auf dem Weg zum Sieg?
Der letzte freie Hafen der Ukraine, Odessa, wird derzeit belagert. Will Russland die Ukraine erwürgen?


Seit 3 Monaten tobt der Krieg in der Ukraine: Nach anfänglichen Erfolgen ist der russische Angriff ins Stocken geraten. Der Präsident der Ukraine, Wolodomyr Selenskyj, spricht aktuell sogar davon, dass man der russischen Armee „das Rückgrat gebrochen“ habe. Die Armee Russlands werde sich auf Jahre hinaus nicht mehr erholen. 

Aber ist diese Sichtweise zu optimistisch? Auch aus Nato-Kreisen gibt es kritische Stimmen. Eine Expertin widerspricht der Analyse Selenskyjs und erklärt die „Boa Constrictor“-Strategie Putins. 

Die Ukraine soll vom Meer abgeschnitten werden

Im Gespräch mit Focus Online erläutert die Analystin Stefanie Babst, langjährige Leiterin des „Nato Foresight Team“, wie sie den Verlauf des Krieges einschätzt. Sie kommt dabei zu deutlich weniger positiven Ergebnissen als der ukrainische Präsident. 

„Die Russen sind von drei Seiten auf die Ukraine losgestürmt und versuchen jetzt nicht nur militärisch die ukrainischen Streitkräfte zu dezimieren, sondern auch mit wirtschaftlichen Mitteln die Versorgungslinien abzuschneiden. Man sieht das ganz deutlich im Süden am Asowschen Meer und am Schwarzen Meer: Drei Hafenstädte wurden bereits eingenommen. Die letzte noch verbleibende freie ukrainische Hafenstadt Odessa liegt unter Belagerung“, so Babst im Focus-Gespräch.

Trotz der scheinbaren Erfolge der ukrainischen Armee in der Abwehr des russischen Angriffs werde die Ukraine von Putins Truppen „erwürgt“. Babst spricht von einer „Boa-Constrictor“-Strategie. 

Russlands Einfluss legt sich wie eine Würgeschlange um die Ukraine

Das strategische Ziel Russlands sei kein kurzfristiger militärischer Erfolg, kein „Blitzkrieg“, sondern vielmehr die Blockade wirtschaftlicher Handlungsfähigkeit der Ukraine. Die Häfen, darunter der jüngst unter Kontrolle gebrachte Schwarzmeerhafen Mariupol, sollen die Handelsmöglichkeiten der Ukraine abwürgen und somit die zentrale Versorgung der Ukraine stark einschränken. Russland wolle die „Ukraine in einen Rumpfstaat verwandeln“, urteilt Babst. 

Die Ukraine solle jede Anbindung zur See verlieren und auch die wichtige „industrielle östliche Basis, also im Donbass“ verlieren. Putin wolle die Ukraine in einen „Rumpfstaat“ verwandeln, handlungsunfähig und letztlich kaum überlebensfähig als unabhängiger Staat. Die Vorstufen dazu seien die Annexion der Krim 2014 gewesen sowie die separatistischen Bemühungen in der Ost-Ukraine. 

Der einzig noch freie Schwarzmeerhafen, Odessa, wird derzeit schon de facto belagert und vor der Küste lauerten russische Kriegsschiffe und Minen, so Babst – eine „ziemlich prekäre Lage“ für die Ukraine.

Ist ein langer Krieg Russlands eigentliche Strategie?

Dazu passt, dass inzwischen über 6 Millionen Ukrainer*innen geflohen sind. Die russischen Angriffe richten sich mit genau der Entkräftungsstrategie, der geplanten Erwürgung nicht nur gegen militärische, sondern auch und vor allem gegen zivile Ziele. 

Ukraines Präsident Selenskyj spricht von einem „totalen Krieg“. Der Führung in Moskau gehe es darum, so viele Menschen in der Ukraine zu töten und so viel Infrastruktur zu zerstören wie nur möglich. Das alles zahlt darauf ein, die Ukraine wirtschaftlich und moralisch zu schwächen. Die russische Führung wolle das Stresslevel der Ukrainer*innen hochhalten, so Babst. 

Wie eine Würgeschlange legt sich trotz der russischen Rückschläge der Einfluss der russischen Armee rund um den ukrainischen „Rumpfstaat“: Im Westen in Transnistrien sind russische Truppen stationiert und bedrohen den Südwesten der Ukraine mit Odessa. Im Süden ist die Krim besetzt und nach der Einnahme Mariupols ist die Landbrücke zu den abtrünnigen Provinzen Lughansk und Donbass im Osten der Ukraine hergestellt. 

Viele stellen sich auf einen lange andauernden Krieg ein – genau das könnte die Strategie der russischen Führung sein, um die Ukraine langsam zu erwürgen und in die Knie zu zwingen. 

 

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