"Gendern, Schnitzel, Minderheitenschutz - ist Deutschland zu 'woke'?": Diese Frage ließ in der ARD-TV-Show "Die 100" mit Ingo Zamperoni niemanden kalt. Vor allem der Auftritt eines ehemaligen Starfußballers rührte zu Tränen.
"Tut mir leid", kämpfte Ex-Nationalspieler Jimmy Hartwig in der ARD-Show "Die 100 - Was Deutschland bewegt" mit den Tränen. Er sei nahe am Wasser gebaut, entschuldigte er sich. Die Erinnerungen an den 4:3 Sieg seines HSV gegen den FC Bayern München im Jahr 1982 kamen hoch. Damals hätten die Fans dem dreimaligen deutschen Meister zugerufen: "Jimmy, du Negerschwein." Er habe als "traurigster Dirigigent" den "dümmsten Chor der Welt dirigiert", schilderte er den Moment: "Das war schlimm. Das ist schlimm. Das ist grausam. Es ist grausam, wenn ein Mensch, nur weil er ein bisschen anders aussieht, beleidigt wird. Das ist das Schlimmste auf der Welt, was es gibt. Und deswegen kämpfe ich schon seit Jahren dagegen an."
Seine größte Waffe dabei sei seine große Klappe gewesen, wie der 71-Jährige betonte - denn "Gewalt bringt nichts". Er selbst leide noch immer unter den Schlägen, die er von seinem Großvater, einem "bekennenden, verfluchten Nazi", erhalten habe. Dass sich seither viel getan hätte, bezweifelte er: "Ich sitze im Stadion beim HSV gegen Augsburg", gab er eine jüngere Anekdorte preis. Weil auf dem Platz ein Spieler mit schwarzer Hautfarbei gestanden sei, habe ein Zuschauer zu ihm gesagt: "Schau mal, Jimmy, der ist ja viel schwärzer als du", so Hartwig, "Was ist das für ein Idiot? Was hat das mit der Hautfarbe zu tun? Schwärzer als ich? Was ist denn das für ein Bullshit?"
Eine Botschaft wollte er mitgeben: "Liebe Gäste, liebe Zuschauer - es ist Weihnachtszeit", appellierte er, "Das Wichtigste ist, Respekt, Augenhöhe und mit seinem Mitmenschen so umzugehen, wie er es verdient. Das ist Weihnachten. Bitte bleiben Sie so!"
Der Applaus war Ohrenbetäubend. "Das kann einen nicht kalt lassen", kommentierte Ralph Caspers den bemerkenswerten Auftritt. Ein kleiner SIeg für Caspers, schließlich hatte der Journalist per Los die Aufgabe zugeteilt bekommen, die 100 Menschen aus Deutschland im Studio davon zu überzeugen, dass die Bundesrepublik eben nicht zu "woke" sei.
Was bedeutet Wokeness überhaupt?
"Woke heißt in hohem Maße politisch wach und engagiert gegen (insbesondere rassistische, sexistische, soziale) Diskriminierung", zitierte Caspers aus dem Duden und brachte sein erstes Argument: "Wokeness schützt Minderheiten" - wie Hartwig oder eine Schülerin aus Wilhelmshaven. Der sei in einem Lokal von einer Kundin gesagt worden: "Geh du dich waschen und zeig mir dein Gesundheitszeugnis", erzählte deren Lehrerin im TV-Studio, denn: "Es gibt viel mehr von diesem Rassismus im Alltag, als wir denken." Das gelte auch für Menschen mit Behinderungen, wie ein von Geburt an schwerhöriger Mann hinzufügte: "Sie werden ihr ganzes Leben lang benachteiligt. Das ist schlimm, das kann nicht sein." Dass das Problem mit mehr Wokeness gelöst werden könne, glaubte er allerdings nicht.
Woke-Regeln verunsichern - "und verunsichert sind wir alle schon genug", war auch eines der Argumente von Caspers ebenfalls per Los bestimmten Gegenspielerin Linda Zervakis. Begrifflichkeiten wie Cis-Mann, Akronyme wie FLINTA (Anm.: Frauen, Lesben, Inter-Personen, Nicht-binäre, Trans Personen und Agender) oder das geschlechtsneutrale Neo-Pronomen ens seien zu kompliziert. "Die meisten Erwachsenen haben keine Lust, sich weiter erziehen zu lassen - das Leben ist kein Uni-Seminar", betonte Zervakis.
"Uni-Seminar ist genau der Begriff, auf den ich gewartet habe", freute sich ein Dozent unter den 100. "Zu meiner Zeit durfte man über jedes Thema sprechen." Da habe es weder Cancel Culture gegeben, noch seien Menschen ausgeladen worden, bevor sie ihre Meinung äußern konnten. Doch "seit zehn bis fünf Jahren gibt es eine kleine Gruppe, die weiß, was richtig ist und verhindert den essentiellen Diskurs über Inhalte. Es wird uns diktiert, was letztlich als Inhalt erlaubt ist und was verboten ist." Er griff damit einem weiteren Argument von Zervakis vor: "Woke sein heißt für manche, andere an den Pranger stellen", kritisierte sie die "Meinungspolizei".