Zuerst ihr Vater, dann die Mutter: Wie Andrea Sawatzkis Eltern sind mindestens 1,8 Millionen Menschen in Deutschland an Demenz erkrankt. Diesem Thema widmete sich am Montagabend nicht nur die ARD-Doku "Hirschhausen und das große Vergessen". Auch bei Hart aber fair ging es um ein Altern in Würde.
                           
          
           
   
          Einwegwindeln, die nochmals benutzt werden, wenn nur 12 Liter Urin drin ist. Überfordertes Personal, das Patienten zu füttern vergisst: "Es ist skandalös, wie es hier in Deutschland zugeht", nahm Andrea Sawatzki bei ihrer Kritik am heimischen Pflegesystem kein Blatt vor den Mund. Dass ihre demenzkranke Mutter vor deren Tod in einem Pflegeheim sediert wurde, steckt der Schauspielerin und Schriftstellerin offensichtlich bis heute in den Knochen. Auch der Gedanke "wie kann ich das beenden", den pflegende Angehörige in ihrer Verzweiflung hegen, ist Sawatzki nicht fremd: Schon als 12-Jährige musste sie ihren demenzerkrankten Vater versorgen. "Dass pflegende Menschen zu diesen Gedanken getrieben werden, ist eine Verantwortungslosigkeit, die mich fassungslos macht", ließ sie ihren Emotionen freien Raum.
       
"Sie dürfen alles loswerden", ermunterte sie Moderator Louis Klamroth, der nach der ARD-Doku "Hirschhausen und das große Vergessen" zu einer Diskussionsrunde zum Thema "Notfall Pflege - wer sorgt für ein Altern in Würde?" eingeladen hatte.
"Bei mir rennen Sie Türen ein", stieß der Gefühlsausbruch auch bei Linken-Bundestagsabgeordneter Stella Merendino auf offene Ohren. "Aber wenn jemand wie Meurer kassiert und Laumann kürzt, dann braucht man sich nicht wundern, dass das System nicht funktioniert", hatte die Krankenschwester in Bernd Meurer (Präsident Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste) und Karl-Josef Laumann (CDU-Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales in Nordrhein-Westfalen) die Schuldigen in der Runde schnell gefunden. Das System werde systematisch gegen die Wand gefahren, solange jemand mit der Gesundheit von Menschen Profit mache - klagte sie und sprach sich unter anderem für eine Pflegevollversicherung aus.
"Die Teilversicherung wie wir sie haben ist richtig", widersprach der CDU-Politiker. Die Kosten in den Pflegeheimen werden ohnehin zu 30 Prozent von den Betroffenen getragen; die häusliche Pflege, die seit 30 Jahren konstant etwa 85 Prozent betrage, werde zu 70 Prozent ohne staatliche Unterstützung finanziert.
Noch vehementer fiel der Einspruch Meurers aus. Als Angehöriger, dessen Mutter ebenfalls an Demenz erkrankt war, könne er die Kritik von Sawatzki zwar nachvollziehen und sehe auch die Überforderung des Personals. "Warum kämpfen Sie dann nicht mit uns?", wollte Merendino wissen und erhielt sofort ihre Antwort: "Links liegt mir nicht", stellte er klar, und überhaupt: "Dass ich der bin, der kassiert, verbitte ich mir ausdrücklich. Ich bin kein Investor, das bügeln Sie mir bitte nicht mit einer linken Parole..." Die Diskussion über Finanzierung oder über Ansätze in der Betreuung von Demenzkranken hielt er für falsch. Von Integration in Kleingruppen bis zur Schulung sowie Sensibilisierung des Personals - "das geschieht alles". Vielmehr scheitere es an fehlenden Mitarbeitenden und Fachkräften: "Da dran hapert es und wenn sie überlastet sind, dann kollabieren solche Konzepte."
Eckart von Hirschhausen: "Scham ist unangebracht."
  In Holland sei das anders: "Die Pfleger stehen Schlange, um reinzukommen", berichtete der 75-jährige Rainer Heydenreich, der selbst vor vier Jahren eine Alzheimer-Diagnose erhielt. Konzepte wie Pflegehöfe, wo Demenzkranke auf Tiere treffen, müsse es auch hierzulande mehr geben - die würden Pflegende sowie Demenzkranke ansprechen. Dass Letztere nur herumsitzen oder sich gar aus der Gesellschaft zurückziehen sollten, lehnte er ab: "Der Demenzerkrankte trägt den überwiegenden Teil der Verantwortung", betonte er, "er muss sich selbst verändern." Kein Alkohol, Bewegung, Anteilnahme am Geschehen und vor allem ein reges Familienleben - Heydenreich macht heute all das, was ihm sein Neurologe geraten hatte. Und mehr: "Ich zeige es euch, ich gehe in die Offensive", meinte der Mann, dessen starker Händedruck nicht nur Louis Klamroth aufgefallen ist, und fügte hinzu: "Ich habe mich nie geschämt dement zu sein." Den Applaus aus dem Publikum hatte er sich verdient.
"Scham ist unangebracht", bestätigte auch Eckart von Hirschhausen (Arzt und Fernsehmoderator, präsentiert die ARD-Doku "Hirschhausen und das große Vergessen" über Demenz). Schließlich würde die Erkrankung früher oder später Menschen in der Familie betreffen, deshalb dürfe man "Demenz nicht als Einzelschicksal betrachten, sondern als Form des Lebens, die nach einer sozialen Antwort sucht." Dennoch dürfe neben der Eigenverantwortung, sein Herz und Hirn fit zu halten, auch die politische Dimension der Prävention nicht außer Acht gelassen werden. Die Gestaltung des Ernährungssystems, eine intelligente Verkehrs- und Umweltpolitik - all diese Bereiche schützen das Gehirn, oder eben auch nicht.