Druckartikel: Die versteckten Babys

Die versteckten Babys


Autor: Irmtraud Fenn-Nebel

Amberg, Freitag, 16. März 2012

Vom Kindsvater verraten, seelisch am Ende: Das Projekt Moses hilft verzweifelten Frauen und ungewollten Kindern.
Kann frau  einen so dicken Bauch verstecken? Sie kann, wenn sie in einer Notlage ist. Foto: Archiv


Hanna Müller* wollte sterben. Das Baby, das seit acht Monaten in ihrem Bauch wuchs, sollte sterben. Die Schwangere wusste keinen Ausweg, war gerade erst volljährig geworden, stand mitten in der Lehre. Ihre Eltern durften von diesem Kind nichts wissen. Hanna Müller musste sich entscheiden.

Im Radio hörte sie eine Sendung über das Moses-Projekt. "Sie sagte, das war ihre Rettung", erinnert sich Maria Geiss-Wittmann an den Fall. Sie fährt durch ihre roten Locken und lächelt sanft. Dann wird die 68-Jährige energisch: Es geht um Frauen in extremen Ausnahmesituationen. Als Leiterin der staatlich anerkannten Schwangerenberatung in Amberg hat Geiss-Wittmann genug Dramen erlebt, die durch ungeplante Schwangerschaften entstanden sind. "Frauen, die das verheimlichen, die ihr Kind nicht zu sich nehmen können, brauchten endlich ein verlässliches Hilfsangebot." Leben und Gesundheit von Mutter und Kind sollten geschützt werden, auch wenn die Frau vor, bei und nach der Geburt ihres Kindes anonym bleiben will. Darin war sich Geiss-Wittmann mit den örtlichen Behörden und der Staatsregierung einig. Gemeinsam gründeten sie 1999 in Amberg das Moses-Projekt.

Zwei Jahre später wurde es vom Träger Donum Vitae übernommen, der in all seinen bayerischen Beratungsstellen diese spezielle Unterstützung für werdende Mütter anbietet. Den Stellen zufolge gibt es allerdings in Bamberg und Nürnberg kaum Nachfrage. Die meisten Frauen kommen nach Amberg.

Dort, in der Beratungsstelle, sitzt Maria Geiss-Wittmann neben der Leiterin Hilde Forst. Sie erklärt, warum die Oberpfalz eine zentrale Anlaufstelle für anonyme Geburten in Bayern ist: "Hier wurde Moses gegründet. Wir haben viel Sicherheit und Erfahrung mit diesem Thema. Und wir haben schon einige Gerichtsprozesse durchgezogen."


Der unsichtbare Bauch


Moses ist eine Gratwanderung im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten. Mit dem Fall von Hanna Müller zog man 2005 vors Bayerische Verwaltungsgericht. Es urteilte, dass die anonyme Geburt, so wie sie im Moses-Projekt angeboten wird, dem Lebensschutz dient und daher nicht rechtswidrig ist. Das Gericht stellte außerdem sicher, dass sich die Frau absolut auf die Anonymität verlassen können muss, und regelte die Finanzierung. Moses hatte gegen den Bezirk geklagt, der zwar für ein ausgesetztes Kind, nicht aber für eine anonyme Geburt zahlen wollte. Jetzt muss er die Kosten für die Inobhutnahme dieser Kinder übernehmen.

Als Hanna Müller über den Notruf zu Moses kam, konnte sie endlich frei reden. Sie hatte sich verliebt und war schwanger. Sie dachte, er würde sie heiraten. Doch er war schon verheiratet. Er wollte sie nicht, er wollte das Kind nicht. Er wollte sie anzeigen, falls sie seinen Namen bekannt geben würde. Also hat sie ihre Schwangerschaft verheimlicht. Ihren Bauch versteckt. Wie kann das gehen? "Es geht", sagt Hilde Forst. Sie hatte schon Schwangere in der Beratung, denen man selbst kurz vor der Entbindung nichts ansah. "Kaum sind sie in der Beratung, explodiert der Bauch. Sie dürfen ihn endlich rauslassen, weil sie sich dem Problem gestellt haben."

Aber die Familie, Freunde, Kollegen müssen es doch merken? "Die Betroffenen leben in einem Umfeld, in dem der eine nicht auf den anderen achtet", sagt Geiss-Wittmann. Mit der sozialen Stellung hat das nichts zu tun, ungewollte Schwangerschaften und der Wunsch nach einer anonymen Geburt kämen in allen Schichten vor.
Die Gründe hat das Institut für Familienforschung Bamberg ermittelt. "Die Schwangerschaft musste unentdeckt bleiben" steht an erster Stelle. Manche Frauen wurden von ihren Partnern verlassen, andere wollten nach einem Seitensprung ihre Ehe retten. Häufig ist es auch zu spät für eine Abtreibung, spielen psychische oder finanzielle, selten religiöse Gründe eine Rolle.

52 Frauen aus ganz Deutschland haben sich seit der Gründung von Moses vor 13 Jahren für eine anonyme Geburt entschieden. Wenn es sein muss, können sie sich in Amberg verstecken. Donum Vitae hat eine Wohnung gemietet. Die Frauen sind meist im siebten, achten Monat, wenn sie Kontakt zu Moses aufnehmen. Mit Forst können sie darüber reden, ob eine anonyme Geburt die richtige Entscheidung ist. Falls ja, berät Forst die Frauen, wie sie die Zeit bis zur Entbindung in ihrem privaten und beruflichen Umfeld organisieren können. Sie begleitet sie zu Untersuchungen in die Klinik, wo sich die Schwangeren einen Schutznamen aussuchen. Und sie bespricht mit ihnen, wo ihre Kinder untergebracht werden sollen.

"Hauptsache, meinem Kind geht's gut, das sagen alle erstmal. Aber dann haben sie doch genaue Vorstellungen, wie das Kind gefördert werden soll", sagt Forst. Die Adoptiveltern sollen vielleicht sportlich sein, musisch, künstlerisch, sprachbegabt, religiös. Donum Vitae gibt diese Wünsche an die Adoptionsvermittlung weiter, die danach die passenden Eltern aussucht. Die Schwangeren geben auch einen Namen für ihr Kind mit. "Den berücksichtigen die Adoptiveltern immer", sagt Geiss-Wittmann, "als ersten oder zweiten Namen."
Auch für die Entbindung haben die Schwangeren einen genauen Plan. "Sie müssen sich Ausreden für zu Hause ausdenken", sagt Forst. "Das reicht von einer Fortbildung bis hin zu einem Kuraufenthalt." Gemeinsam mit der Klinik können die Frauen einen Termin festlegen, die Geburt wird eingeleitet. Falls gewünscht, kommt eine Beraterin mit in den Kreißsaal.

Was danach passiert, ist auch für Forst jedes Mal anders. Manche Mütter wollen ihr Kind erst nicht sehen und dann, wenn es schreit, doch. Manche verlassen die Klinik gleich nach der Entbindung. Andere bleiben noch ein paar Tage auf einer normalen Station, um sich von ihrem Kind zu verabschieden. Manchmal möchten die Mütter auch ein Foto von ihrem Baby, manchmal schreiben sie ihm einen Brief, in dem sie alles erklären. Oder sie erzählen es Forst und bitten sie, ihre Geschichte an die Adoptiveltern weiterzugeben.

Diese können die Kinder gleich von der Klinik abholen. Wenn nicht sicher ist, ob sich die Frau doch noch anders entscheidet, kommt das Baby erst in die Bereitschaftspflege und dann zu den Eltern. Bis zu einem Jahr nach der Entbindung kann die Mutter ihren Entschluss überdenken. Bisher ist es erst einmal vorgekommen, dass die Mutter ihr Baby doch zu sich genommen hat.


Unbekanntes Enkelkind


Wenn sich die Mutter nach einem Jahr nicht gemeldet hat, kann das Kind adoptiert werden. Zu den meisten Frauen hat Beraterin Forst schon nach spätestens drei Monaten keinen Kontakt mehr. "Die Frauen wollen mit dem Thema abschließen." So war es auch bei Hanna Müller. Sie legte ihren Geburtstermin auf ein langes Wochenende. Am Tag danach fuhr sie nach Hause. Ihre Eltern haben nie von ihrem Enkelkind erfahren.
*Name geändert.


Infos und Hilfe


Notruf: Unter der Nummer 0800/0066737 sind rund um die Uhr Beraterinnen des Moses-Projekts erreichbar. In Franken gibt es Beratungsstellen in Bamberg, Nürnberg und Aschaffenburg (mit Außenstellen). Adressen und Kontakt unter www.moses-projekt.de.

Kliniken: Die meisten anonymen Geburten finden in den Kliniken Amberg und Sulzbach-Rosenberg statt. Insgesamt kooperieren 13 Kliniken in Bayern mit Donum Vitae für anonyme Geburten.

Kosten: Der Staat kümmert sich um das Kind, aber für eine anonyme Untersuchung, die anonyme Unterbringung der Frau vor und nach der Geburt und für die anonyme Geburt im Krankenhaus gibt es keine öffentlichen Mittel oder Geld von den Krankenkassen. Diese Kosten sowie die Kosten für die Durchführung des Projektes übernimmt Donum Vitae.