Es gibt allerdings auch noch einen Sonderfall in den Beistandsklauseln der EU-Verträge. Nicht alle Länder der EU sind Mitglied der NATO, so zum Beispiel Österreich, Schweden und Finnland, aber auch Malta, Irland und Zypern. Diese Länder sind durch Artikel 42 Absatz 7 der EU-Verträge in gewisser Weise zum Beistand verpflichtet. Konkret heißt es hier: "Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats schulden die anderen Mitgliedstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung, im Einklang mit Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen. Dies lässt den besonderen Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten unberührt." Dies kann bedeuten, dass bei einem Angriff auf ein EU-Land keine militärische, aber wirtschaftliche Hilfe zu leisten ist. Auch Sanktionen, welche die EU verhängt, sind zu unterstützen und umzusetzen.
Kann aus diesem Bündnisfall ein Weltkrieg werden?
Die Ereignisse vom November 2022 in Polen zeigten drastisch, wie schnell es zu einem Bündnisfall kommen könnte. Zur Erinnerung: Am 15. November schlug in der südpolnischen Ortschaft Przewodow eine Rakete ein. Dabei kamen zwei Personen ums Leben. Laut HNA.de behauptete der ukrainische Präsident Wolodomyr Selenskyj zuerst, dass Russland dafür verantwortlich sei, was der Kreml umgehend zurückwies. Mittlerweile scheint es aber klar zu sein, dass es sich bei diesem Geschoss um eines aus dem Arsenal der Ukraine handelt. Warum dieses in Polen einschlug, darüber besteht (Stand 21. November 2022) noch keine Klarheit. Auch nicht, ob die Behauptung aus Überzeugung stattfand oder aber in der Absicht, dadurch einen Bündnisfall zu provozieren, denn da die Ukraine kein NATO-Mitglied ist, besteht dahingehend auch keine Unterstützungspflicht.
Anders sieht es hingegen aus, wenn Russland nun, sei es aus Versehen oder mit Absicht, eine Rakete auf Polen abgefeuert hätte. Dann wäre Polen als NATO-Mitglied berechtigt, den NATO-Rat anzurufen, um den Bündnisfall ausrufen zu lassen. Dies hätte massive Konsequenzen. Besteht zurzeit noch ein begrenzter lokaler Krieg, entstanden aus einem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, würden damit die NATO-Länder mit involviert. Würde der NATO-Rat den Bündnisfall also ausrufen, würde auch die Bundeswehr aktiv.
Damit würde dann ein möglicher größerer Konflikt erwachsen, denn die NATO würde unter Umständen nicht nur in Polen aktiv, sondern gemäß dem geltenden Vertrag auch in die Ukraine und weiter nach Russland marschieren, um der Aggression ein Ende zu bereiten. Da aber anzunehmen ist, dass Putin und seine Generäle dies nicht zulassen, ist mit einer weiteren Eskalation zu rechnen. Der Krieg würde sich zwangsläufig ausweiten, da Russland in diesem Fall auch auf die Hilfe seiner Verbündeten, auch gemäß dem Vertrag über die kollektive Sicherheit, zurückgreifen würde.
Wie oft wurde der Bündnisfall ausgerufen?
Im Laufe der Geschichte der NATO wurde der Bündnisfall bisher nur ein einziges Mal ausgerufen. Am 11. September 2001 entführten Al-Quaida Terroristen vier Passagiermaschinen und setzten sie gezielt als Waffen gegen Gebäude in den USA ein. Zwei davon flogen in das World-Trade-Center. Die Türme brachen daraufhin zusammen, eine weitere wurde in das Pentagon gesteuert, die vierte stürzte vor Erreichen des Zieles ab. Am 12. September verurteilte der UN-Sicherheitsrat die Anschläge in Anerkennung des naturgegebenen Rechts zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung. Die 15 Mitglieder, darunter auch China und Russland, forderten einstimmig, die Täter und deren Hintermänner zur Verantwortung zu ziehen.
Der damalige Präsident Georg W. Bush machte Al-Quaida öffentlich für den Angriff verantwortlich und brachte das terroristische Netzwerk mit dem in Afghanistan herrschenden Taliban-Regime in Verbindung. Ebenfalls am 12. September 2001 wies der NATO-Rat darauf hin, dass der Bündnisfall vorläge, sofern die USA beweisen könne, dass die Anschläge auf das Land vom Ausland her vorgenommen worden wären. Am 2. Oktober 2001 verkündete der damalige NATO-Generalsekretär Robertson, dass nunmehr die Beweise erbracht seien. Daraufhin beschlossen die zu diesem Zeitpunkt 19 Mitgliedsstaaten der NATO am 4. Oktober einstimmig und zum allerersten Mal den Bündnisfall. Die NATO erkannte die notwendigen Voraussetzungen als erfüllt an. Die Täter seien Teil des Terrornetzwerkes Al-Quaida gewesen, wodurch feststünde, dass die Angriffe auf die USA aus dem Ausland gesteuert worden wären.
Am 7. Oktober 2001 begann die militärische Intervention unter dem Namen "Operation Enduring Freedom (OEF)". Das Ziel: Al-Quaida in Afghanistan zerschlagen und das Terrorregime der Taliban zu stürzen. Die Unterstützung wurde durch die Mitglieder der NATO geleistet, auch Soldaten der Bundeswehr waren in Afghanistan im Einsatz. Offiziell endete die Mission im Dezember 2014 durch die Erklärung der USA.
Fazit
Der NATO-Vertrag soll eine Sicherheit für alle Länder darstellen und als Abschreckung gegen Aggressoren dienen. Dabei ist es wichtig zu beachten, dass es vorgeschaltete Kontrollmechanismen gibt, deren Aufgabe es ist, genau zu prüfen, ob ein Bündnisfall und damit eine gemeinsame Aktion, genauer gesagt eine militärische Intervention, infrage kommt. Bisher kam der Bündnisfall nur einmal vor, doch haben die Ereignisse in Polen aufgezeigt, wie schnell es zu einem solchen kommen könnte.