Der NATO-Bündnisfall: Was bedeutet er - und wie oft wurde er bereits ausgerufen?

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Eine Karte der NATO-Länder.
Eine Karte der NATO-Länder.
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Der NATO-Bündnisfall: Wann er ausgerufen werden kann, ist im entsprechenden Artikel der Vereinbarung geregelt. Doch was bedeutet es und was wären die Folgen?

  • Was ist der NATO-Bündnisfall?
  • Wann wird er ausgerufen?
  • Was bedeutet das?
  • Welche Folgen hätte die Ausrufung?
  • Wurde er schon einmal ausgerufen

Wann und wie der NATO-Bündnisfall ausgerufen wird, ist genau geregelt. Doch was geschieht, wenn er ausgerufen wird? Welche Folgen hätte dies weltweit und vor allem für Deutschland? Wäre es möglich, dass dies eskaliert und ein Weltkrieg die Folge wäre?

Was ist der Bündnisfall?

Als die NATO 1949 gegründet wurde, befand die Welt sich bereits im Kalten Krieg. Die Angst vor einem bewaffneten Konflikt mit der damaligen UDSSR beherrschte das Denken und Handeln. Im Vertrag wurde daher genau festgelegt, dass bei einem Konflikt die anderen Mitgliedsstaaten zur Hilfe verpflichtet sind. Dies wurde im Artikel 5 geregelt. Darin heißt es: "Die Parteien vereinbaren, dass ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen werden wird; sie vereinbaren daher, dass im Falle eines solchen bewaffneten Angriffs jede von ihnen in Ausübung des in Artikel 51 der Satzung der Vereinten Nationen anerkannten Rechts der individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung der Partei oder den Parteien, die angegriffen werden, Beistand leistet, indem jede von ihnen unverzüglich für sich und im Zusammenwirken mit den anderen Parteien die Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, trifft, die sie für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten."

In Artikel 6 des Vertrages wird der "bewaffnete Angriff" genauer spezifiziert. Darin wird auch geregelt, dass sich ein solcher Angriff nicht alleine auf ein Staatsgebiet beschränkt, sondern auch "auf die Streitkräfte, Schiffe oder Flugzeuge einer der Parteien, wenn sie sich in oder über diesen Gebieten oder irgendeinem anderen europäischen Gebiet, in dem eine der Parteien bei Inkrafttreten des Vertrags eine Besatzung unterhält oder wenn sie sich im Mittelmeer oder im nordatlantischen Gebiet nördlich des Wendekreises des Krebses befinden."

Damit ist die Bedeutung klar: Würde ein Staat einen anderen, der Mitglied in der NATO ist, direkt angreifen, kann dieser Staat die restlichen Mitglieder um Hilfe bitten. Diese kann nicht verwehrt werden. Allerdings tritt der Bündnisfall nicht automatisch ein. Das ist in Artikel 4 des Vertrages geregelt: "Die vertragschließenden Staaten werden in Beratungen miteinander eintreten, wenn nach der Meinung eines von ihnen die Unversehrtheit des Gebietes, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit irgendeines der vertragschließenden Staaten bedroht ist." Für Deutschland ist dies unter anderem auch im Grundgesetz, Artikel 80a geregelt. Darin steht, vereinfacht gesagt, dass der Bundestag seine Zustimmung geben muss, dass man den Bündnisfall als solchen akzeptiert. Diese Zustimmung bedarf einer Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen. 

Der Ablauf und die Bedeutung für Deutschland

In der Theorie würde ein solcher Bündnisfall so ablaufen: Der Staat, der angegriffen wird, ruft die NATO um Hilfe an. Der NATO-Rat muss dann feststellen, ob ein Bündnisfall vorliegt. Sollte dies der Fall sein, würden die Mitgliedsstaaten informiert, dass der Bündnisfall ausgerufen wird. In den einzelnen Ländern wird dann gemäß den dort festgelegten Regeln agiert. 

Für Deutschland würde dies bedeuten, dass, je nach Szenario, es zu einer Mobilmachung der Bundeswehr kommt. Da in diesem Fall mit einer gewissen Eile gehandelt werden muss, kann die Zustimmung des Bundestages auch rückwirkend gelten. Je nach Kapazität würden dann Truppen in das Einsatzgebiet verlagert. Da es wohl eher unwahrscheinlich ist, dass ein solcher Angriff aus heiterem Himmel erfolgt, geht dem meist eine Krise voraus, in der vorausschauend agiert werden kann und möglicherweise bereits schnelle Eingreiftruppen vorhanden sind. Die USA würden in diesem Fall über den Stützpunkt Ramstein aktiv werden und, sollte der Fall in Osteuropa eintreten, diese Länder mit Truppen versorgen. Deutschland würde sich allerdings in jedem Fall sehr schnell als Kriegspartei in einem Konflikt befinden. Dabei entscheidet der Umfang eben dieses Konfliktes darüber, ob auch ein Angriff auf Deutschland selber droht. Der Bündnisfall sieht eine aktive Verteidigung vor, das heißt, es ist auch ein Einmarsch in das Land des Aggressors zur Beendigung der Aggression vorgesehen. Der NATO-Rat und der Bundestag (für Deutschland) entscheiden schließlich, ob der Bündnisfall beendet ist.

Es gibt allerdings auch noch einen Sonderfall in den Beistandsklauseln der EU-Verträge. Nicht alle Länder der EU sind Mitglied der NATO, so zum Beispiel Österreich, Schweden und Finnland, aber auch Malta, Irland und Zypern. Diese Länder sind durch Artikel 42 Absatz 7 der EU-Verträge in gewisser Weise zum Beistand verpflichtet. Konkret heißt es hier: "Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats schulden die anderen Mitgliedstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung, im Einklang mit Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen. Dies lässt den besonderen Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten unberührt." Dies kann bedeuten, dass bei einem Angriff auf ein EU-Land keine militärische, aber wirtschaftliche Hilfe zu leisten ist. Auch Sanktionen, welche die EU verhängt, sind zu unterstützen und umzusetzen. 

Kann aus diesem Bündnisfall ein Weltkrieg werden?

Die Ereignisse vom November 2022 in Polen zeigten drastisch, wie schnell es zu einem Bündnisfall kommen könnte. Zur Erinnerung: Am 15. November schlug in der südpolnischen Ortschaft Przewodow eine Rakete ein. Dabei kamen zwei Personen ums Leben. Laut HNA.de behauptete der ukrainische Präsident Wolodomyr Selenskyj zuerst, dass Russland dafür verantwortlich sei, was der Kreml umgehend zurückwies. Mittlerweile scheint es aber klar zu sein, dass es sich bei diesem Geschoss um eines aus dem Arsenal der Ukraine handelt. Warum dieses in Polen einschlug, darüber besteht (Stand 21. November 2022) noch keine Klarheit. Auch nicht, ob die Behauptung aus Überzeugung stattfand oder aber in der Absicht, dadurch einen Bündnisfall zu provozieren, denn da die Ukraine kein NATO-Mitglied ist, besteht dahingehend auch keine Unterstützungspflicht

Anders sieht es hingegen aus, wenn Russland nun, sei es aus Versehen oder mit Absicht, eine Rakete auf Polen abgefeuert hätte. Dann wäre Polen als NATO-Mitglied berechtigt, den NATO-Rat anzurufen, um den Bündnisfall ausrufen zu lassen. Dies hätte massive Konsequenzen. Besteht zurzeit noch ein begrenzter lokaler Krieg, entstanden aus einem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, würden damit die NATO-Länder mit involviert. Würde der NATO-Rat den Bündnisfall also ausrufen, würde auch die Bundeswehr aktiv. 

Damit würde dann ein möglicher größerer Konflikt erwachsen, denn die NATO würde unter Umständen nicht nur in Polen aktiv, sondern gemäß dem geltenden Vertrag auch in die Ukraine und weiter nach Russland marschieren, um der Aggression ein Ende zu bereiten. Da aber anzunehmen ist, dass Putin und seine Generäle dies nicht zulassen, ist mit einer weiteren Eskalation zu rechnen. Der Krieg würde sich zwangsläufig ausweiten, da Russland in diesem Fall auch auf die Hilfe seiner Verbündeten, auch gemäß dem Vertrag über die kollektive Sicherheit, zurückgreifen würde. 

Wie oft wurde der Bündnisfall ausgerufen?

Im Laufe der Geschichte der NATO wurde der Bündnisfall bisher nur ein einziges Mal ausgerufen. Am 11. September 2001 entführten Al-Quaida Terroristen vier Passagiermaschinen und setzten sie gezielt als Waffen gegen Gebäude in den USA ein. Zwei davon flogen in das World-Trade-Center. Die Türme brachen daraufhin zusammen, eine weitere wurde in das Pentagon gesteuert, die vierte stürzte vor Erreichen des Zieles ab. Am 12. September verurteilte der UN-Sicherheitsrat die Anschläge in Anerkennung des naturgegebenen Rechts zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung. Die 15 Mitglieder, darunter auch China und Russland, forderten einstimmig, die Täter und deren Hintermänner zur Verantwortung zu ziehen. 

Der damalige Präsident Georg W. Bush machte Al-Quaida öffentlich für den Angriff verantwortlich und brachte das terroristische Netzwerk mit dem in Afghanistan herrschenden Taliban-Regime in Verbindung. Ebenfalls am 12. September 2001 wies der NATO-Rat darauf hin, dass der Bündnisfall vorläge, sofern die USA beweisen könne, dass die Anschläge auf das Land vom Ausland her vorgenommen worden wären. Am 2. Oktober 2001 verkündete der damalige NATO-Generalsekretär Robertson, dass nunmehr die Beweise erbracht seien. Daraufhin beschlossen die zu diesem Zeitpunkt 19 Mitgliedsstaaten der NATO am 4. Oktober einstimmig und zum allerersten Mal den Bündnisfall. Die NATO erkannte die notwendigen Voraussetzungen als erfüllt an. Die Täter seien Teil des Terrornetzwerkes Al-Quaida gewesen, wodurch feststünde, dass die Angriffe auf die USA aus dem Ausland gesteuert worden wären.

Am 7. Oktober 2001 begann die militärische Intervention unter dem Namen "Operation Enduring Freedom (OEF)". Das Ziel: Al-Quaida in Afghanistan zerschlagen und das Terrorregime der Taliban zu stürzen. Die Unterstützung wurde durch die Mitglieder der NATO geleistet, auch Soldaten der Bundeswehr waren in Afghanistan im Einsatz. Offiziell endete die Mission im Dezember 2014 durch die Erklärung der USA. 

Fazit

Der NATO-Vertrag soll eine Sicherheit für alle Länder darstellen und als Abschreckung gegen Aggressoren dienen. Dabei ist es wichtig zu beachten, dass es vorgeschaltete Kontrollmechanismen gibt, deren Aufgabe es ist, genau zu prüfen, ob ein Bündnisfall und damit eine gemeinsame Aktion, genauer gesagt eine militärische Intervention, infrage kommt. Bisher kam der Bündnisfall nur einmal vor, doch haben die Ereignisse in Polen aufgezeigt, wie schnell es zu einem solchen kommen könnte.