Georg Würstlein war einst Bürgermeister von Unterzettlitz, dann Dritter Bürgermeister von Staffelstein. Am gestrigen Sonntag feierte er 85. Geburtstag - und ist somit einen Tag älter als Papst Benedikt XVI. Als Zeitzeuge überblickt er gut 80 Jahre, und er erinnert sich an viele Details.
Wenn Georg Würstlein von seiner Kindheit erzählt, entsteht das Bild einer heilen Welt. Erst bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass das Idyll oft trügerisch war. Der heraufdämmernde Nationalsozialismus warf Schatten, der Krieg riss Lücken und die medizinische Versorgung der Menschen auf dem Land war mehr als mangelhaft.
"Wir Kinder badeten im Main, hängten uns an die Flöße und schwammen mit", erzählt der 85-Jährige. Die Flößer aus dem Frankenwald sahen das gar nicht gern und verjagten die übermütigen Kinder mit ihren langen Stangen von den Floß enden. Für die Kinder war's ein Jux, ebenso wie sie manchmal den Unterzettlitzer Schrankenwärter am Bahnübergang ablenkten, um in einem unbeobachteten Moment Pfennige auf die Gleise zu legen. Die vorbeidonnernden Zügen walzten die kleinen Münzen platt und schleuderten sie herum, so dass manche davon gar nicht wiedergefunden wurden.
Überhaupt, die Eisenbahn: Bis in die 1960er Jahre hinein waren stampfende Dampfrösser auf den Gleisen im Maintal an der Tagesordnung. Die rauchenden Ungetüme konnten die Frauen aus Unterzettlitz zur Verzweiflung bringen. Als es noch keine Waschmaschinen gab, wuschen sie gemeinsam am Waschtag, so wie sie gemeinsam am Backtag buken. Zwischen den Obstbäumen, unweit der Bahntrasse, wurden Wäscheleinen gespannt, um die persilweißen Laken zu trocknen. Meilenweit war die frische Wäsche zu sehen, was manchen Heizer reizte. Es kam vor, dass Eisenbahner den Waschfrauen einen bösen Streich spielen wollten und absichtlich noch eine Schippe Kohlen in die Feuerbüchse schaufelten. Die Folge: Eine schwarze Rußfahne machte die Arbeit der Wäscherinnen zunichte. "Die Frauen haben geweint", erinnert sich Georg Würstlein.
Verlust und Tod der Geschwister Ganz so idyllisch wie diese nostalgischen Bilder vermuten lassen, verliefen Kindheit und Jugend von Georg Würstlein nicht. Zwei seiner Geschwister starben im Kleinkindalter, so wie das früher in vielen Familien geschehen ist. Zusammen mit seinen drei älteren Schwestern wuchs er in Unterzettlitz auf. "Wir waren ein schönes Geschwisterpaar", sagt er über das Zusammensein der Geschwister, die inzwischen gestorben sind. Bis zuletzt seien sie herzlich miteinander verbunden gewesen.
Am Karfreitag, 15. April 1927, kam Georg Würstlein im Elternhaus in Unterzettlitz zur Welt. "Ich bin einen Tag älter als der Papst", sagt er und lächelt.
Von 1933 bis 1942 besuchte er die Schule in Staffelstein. Ihr Lehrer prophezeite ihnen damals, am Anfang des Krieges, dass sie die ersten Kinder seien, die zu Friedenszeiten die Schule verlassen werden. Doch damit wurde es nichts. Georg Würstlein wurde im Sommer 1944 gemustert, aber freigestellt, weil er unabkömmlich war als Schlepperfahrer für die Raiffeisen. Einen Lanz chauffierte er damals über die Landstraßen, ein Ungetüm mit Glühkopfmotor. Allein das Anlassen war eine Kunst, und wenn der Bolide unterwegs ausging, kostete es viel Zeit, ihn wieder in Gang zu setzen.
Im Herbst 1944 wurde es für Georg Würstlein ernst. Er musste einrücken, wie man damals sagte, zunächst zum Reichsarbeitsdienst. Bis Januar 1945 war er im Riesengebirge eingesetzt, dann kam der Gestellungsbefehl zur Heeresflak.
Ironie des Schicksals: Georg Würstlein wurde just zu diesem Zeitpunkt schwer krank. Gelenkrheumatismus. Acht Wochen lag er gelähmt im Bett, denn es gab ja keine Medikamente. Das rettete ihm möglicherweise das Leben, ersparte ihm auf jeden Fall aber die Gefangenschaft.
Nach dem Krieg sei es überall in Deutschland langsam aufwärts gegangen. Georg Würstlein erinnert sich gut an die 40 Mark "Kopfgeld", die es bei der Währungsreform 1948 gab. Von 1949 bis 1951 besuchte er die Staffelsteiner Landwirtschaftsschule, und im Februar 1950 war er einer der Mitbegründer der "Landjugendgruppe Unterzettlitz". 30 Jungbäuerinnen und Jungbauern hatten sich hierzu eingefunden. Doch "Jungbauer" war man nur, solange man ledig war. Also musste Georg Würstlein das Amt des Vorsitzenden bald wieder abgeben, denn im Februar 1952 heiratete er seine Frau Rosa.
Anfang der 1950er Jahre erwarb er den Landwirtschaftsgehilfenbrief und übernahm den elterlichen Hof, einen Zuchtbetrieb für "Gelbes Frankenvieh" mit bis zu 17 Tieren. An seinen ersten Schlepper, einen Fendt "Dieselross" mit zwölf PS, erinnert er sich gut: 1954 schaffte er diesen Bulldog für 5400 Mark an.
Führerschein war kein Hexenwerk Den Führerschein machte Georg Würstlein mit 16 Jahren. Kein Vergleich zu heute: Im Winter 1942/43 ging das schnell; den Führerschein der Klasse 4 für Schlepper und Motorräder bis 250 Kubikzentimeter nahm die Polizei in Staffelstein ab.
Das Fahren konnten die Bewerber ohnehin schon, so dass lediglich ein wenig Theorie an der Magnettafel zu absolvieren war. "Autola schieben" nennt Georg Würstlein diesen Unterricht, wobei ein Polizist magnetische Fahrzeuge hin und her schob und die Prüflinge fragte, wer hier Vorfahrt habe.
Den Führerschein fürs Auto brauchte Georg Würstlein als Landwirt nach dem Krieg zunächst nicht, so dass er ihn erst Anfang der 1960er Jahre machte, nachdem er Bürgermeister geworden war.
Die Kommunalpolitik ist ein weiteres Betätigungsfeld von Georg Würstlein. Vom 1. Mai 1960 bis zur Eingemeindung nach Staffelstein war er Bürgermeister von Unterzettlitz und Niederau. "Einen Wahlkampf gab es nicht", sagt er rückblickend. Eigentlich wollte er das Amt (noch) gar nicht haben, denn der Landwirtschaftsbetrieb und seine drei kleinen Kinder Dorothea, Franz und Johann waren Aufgabe genug. Sein Vorgänger wollte ihn aber auf diesem Posten sehen, und so sagte er zu, wurde mit 33 Jahren Bürgermeister. Die Schreibarbeit nahm ihm ein Gemeindehelfer ab, den der damalige Staffelsteiner Landrat Oskar Schramm berufen hatte, um die ehrenamtlichen Bürgermeister der kleinen Gemeinden zu entlasten.
Ohne Schulden in die Zukunft Ein wenig stolz ist Georg Würstlein darauf, seine Gemeinde "ohne Schulden an Staffelstein" übergeben zu haben. So schnell wie heute habe sich das Maintal früher jedoch auch nicht verändert. In der Vor- und Nachkriegszeit ging es eher gemächlich zu. Große Bauprojekte mussten nicht geschultert werden, und die Feuerwehr kam lange mit einer Spritze aus, die auf einem eisenbereiften Hänger verlastet war. Das erste Erdbauvorhaben, das er als Bürgermeister angegangen sei, erzählt er, sei die Ufersicherung des Feuerlöschweihers gewesen. Im Winter 1960/61 seien der Weiher ausgebaggert und die Ufer befestigt worden. Im Hochbau entstand 1977/78, noch vor der Eingemeindung nach Staffelstein, das neue Feuerwehrhaus.
Die Sitzungen des siebenköpfigen Gemeinderats (sechs Räte und der Bürgermeister) fanden damals übrigens in keinem Rathaus statt, sondern meist im Haus des Bürgermeisters. An der Fassade hing ein Schild "Wohnung des Bürgermeisters", das Georg Würstlein aber leider irgendwann abhanden gekommen ist. "Manchmal trafen wir uns aber auch in der Gastwirtschaft Thyzel", erinnert er sich. Die Presse war - sowohl bei den Sitzungen im Bürgermeister-Wohnzimmer als auch im Gasthaus - damals immer dabei. Als Reporter bei den Sitzungen fungierte der Polizist Karl Schardt - auch dann noch, als er später selbst dem Gemeinderat angehörte.
In seiner Amtszeit wurde ein Mischwasserkanal gebaut, "stückweise in Eigenbau", wie Georg Würstlein betont, "und durch Hand- und Spanndienste, so dass niemand Anschlussgebühren zahlen musste". Auch die Umsetzung der 1958 begonnenen Flurbereinigung fiel in seine Zeit als Bürgermeister. Ohne Kritik an den späteren oder heutigen Mandatsträgern zu üben, erzählt er, dass drei Straßenlampen Unterzettlitz in den 1960er Jahren ausleuchteten: "Das hat damals gereicht."
Nach der Gemeindegebietsreform gehörte Georg Würstlein vom 1. Mai 1978 bis 30. April 1996 dem Staffelsteiner Stadtrat an und wurde zum Dritten Bürgermeister gewählt. Zudem wirkte er von Mai 1966 bis April 1972 als Kreisrat im Staffelsteiner Kreistag mit und von Mai 1972 bis April 1996 im Lichtenfelser Kreistag.
Dass die Bundesrepublik Deutschland, der Kreis Lichtenfels und die Stadt Staffelstein mit seinen Diensten höchst zufrieden sind, schlug sich in hohen Auszeichnungen nieder: 1985 erhielt er das Bundesverdienstkreuz am Bande, 1989 zeichnete ihn Landrat Ludwig Schaller mit der Ehrenmedaille des Kreises aus und 1996 erhielt er die Ehrenmedaille der Stadt Staffelstein.
Alle ehrenamtlichen Verpflichtungen zu nennen, würde den Rahmen dieses Porträts sprengen. Deshalb nur eine Skizze der wichtigsten: Georg Würstlein saß im Vorstand des Staffelsteiner Milchhofs Main-Baunach, er war Schöffe am Oberlandesgericht Bamberg, wirkte im Vorstand der Landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft für die "Selbstständigen ohne feste Arbeitskräfte" (grinsend fügt er an: "die so genannten Sofa-Leute") und ist heute wegen seines langjährigen Engagements Ehrenvorstand bei der Feuerwehr und beim Gartenbauverein.
27 Pfennig pro Einwohner Es ist also verständlich, dass Georg Würstlein auf die Frage nach seinem Hobby amüsiert reagiert: "Mein Hobby? Das waren die Ehrenämter." Und reich werden konnte ein kommunaler Wahlbeamter auch nicht: 27 Pfennig pro Einwohner betrug sein monatliches Bürgermeister-Salär in den frühen 1960ern.
1987 übergab Georg Würstlein seinen landwirtschaftlichen Betrieb an Sohn Franz. Der Ahnenforschung widmete er sich fortan immer dann, wenn er doch einmal Freizeit hatte. Bis etwa 1700 sei er bei der Recherche in den Archiven gekommen, sagt er, doch klafften hier und da noch Lücken, gibt er zu. Eine Erfahrung, die sicher jeder Hobby-Genealoge aus eigenem Erleben bestätigen kann.
Ein schwerer Schlaganfall im September 2003 nahm Georg Würstlein fast drei Monate das Augenlicht. Ein Jahr habe es gedauert, bis er wieder hergestellt war. Sehen kann er wieder, doch das Gedächtnis versage ihm manchmal ein wenig den Dienst, beschreibt er diesen Zustand des Alterns, ohne aber ins Klagen zu kommen: "Erst wenn ich keinen Humor mehr hab', dann isses vorbei."
Freude hat er nicht nur an der Ahnenforschung, sondern auch am Blick in die Zukunft. Bange sein muss ihm nicht, dass die Äste des Stammbaums verdorren. Sieben Enkel im Alter zwischen 19 und 32 Jahren sind in seinen Augen die Zukunft. Wenn er über seine Enkel spricht, tut er das ohne Überschwang, wohl aber mit Stolz.
Brennender Bahndamm Apropos Eisenbahner: Auch wenn sie die frisch gebleichte Wäsche frech mit dem Kohlenruß schwärzten, waren sie wohl doch keine schlechten Menschen: Manch einer warf in der Notzeit nach dem Krieg einige Kohlebrocken herab, die von armen Leuten aufgesammelt wurden.
Ob es Zufall oder Absicht war, dass hin und wieder ein glühendes Stück Kohle von der Lok herab fiel und den Bahndamm in Brand setzte, mag dem Urteil des Lesers überlassen bleiben.