Ihre Schwiegereltern hätten viel und körperlich schwer gearbeitet, erinnert sich Andrea Stindl, "aber sie waren glücklich. Sicher gibt es heute mehr Luxus, aber viele Menschen sind psychisch belastet, ausgebrannt, haben kaum noch Zeit füreinander und schon gar nicht für andere."
Oma Erna, inzwischen 89 Jahre alt, lebt im Pflegeheim. Vor dreieinhalb Jahren war klar: Es geht nicht mehr anders. Trotzdem ist der Familie der Schritt sehr schwer gefallen. Und obwohl sie zunächst den Schwiegervater bis zu dessen Tod und später auch die Schwiegermutter zu Hause versorgt hat, belastet die Entscheidung Andrea Stindl noch immer ein wenig: "Es tut mir weh, dass ich sie im Stich lassen musste. Sie war immer für uns da, Oma und Opa haben unsere Kinder mit großgezogen. Wir konnten mit ruhigem Gewissen auf die Arbeit gehen. Nie gab es ein böses Wort."
"Ich werde von allen geachtet"
Doch die 89-Jährige fühlt sich nicht im Stich gelassen, sondern im Awo-Pflegeheim Am Rasen gut versorgt. "Ihr braucht euch keine Vorwürfe zu machen", sagt sie tröstend zu Sohn und Schwiegertochter. "Ich habe keine schlechte Zeit. Und ich werde von allen geachtet."
Letzteres ist der alten Dame besonders wichtig. "Respektvoll miteinander umzugehen, das ist es, was sie ihre Kinder und Enkelkinder lehren wollte. Es macht sie sichtlich ein bisschen stolz, dass das zu einem Grundwert ihrer Familie geworden ist. Diese Haltung könnte der Gesellschaft insgesamt nicht schaden, findet sie: "Mit ein bisschen mehr Respekt und Verständnis könnten wir viele Probleme lösen."
Solidarit wird gelebt und muss gepflegt werden
Gerechtigkeit, Wertschätzung, Zufriedenheit - das sind wichtige Säulen einer funktionierenden Gesellschaft. Solidarität zwischen den Generationen gehört ebenso dazu, sagt Sozialpädagogin Silvia Bauernfeind vom Beratungs- und Betreuungsdienst der Kulmbacher Arbeiterwohlfahrt. "Diese Solidarität ist stabil in unserer Gesellschaft verankert, obwohl es oft heißt, sie werde immer egoistischer. Ich erlebe in meiner Tätigkeit in der Beratungsstelle und im Senioren- und Pflegeheim Am Rasen, dass es vielen Menschen wichtig ist, füreinander da zu sein."
Genießt dabei eine Generation die Vorteile, während die andere die Lasten trägt? "Das glaube ich nicht. Ich sehe aber die mittlere Generation besonders gefordert", sagt Silvia Bauernfeind. Da sei einerseits die Versorgung der hilfsbedürftigen Mutter zu bewerkstelligen, auf der anderen Seite die Ausbildung des Sohnes zu unterstützen oder die Betreuung der kleinen Enkelkinder zu organisieren. Die Mehrbelastung sei aber nicht mit Ungerechtigkeit gleichzusetzen. "Die Generationen verschieben sich. Die Jungen von heute sind die Alten von übermorgen."
Barrieren nicht entstehen lassen
Auch für die Sozialpädagogin ist klar: "Wir leben nicht auf einer Insel der Glückseligen. Die Arbeitswelt ist fordernd und wird hektischer, die zunehmende Digitalisierung und demografische Veränderungen bringen Umbrüche mit sich." Da müsse man überlegen, wie sich Barrieren zwischen den jungen und alten Menschen vermeiden lassen. "Unsere ganze Gesellschaft ist da gefordert, an erster Stelle die Politik. Wir brauchen Strategien, um die Solidarität zwischen den Generationen auch in Zukunft zu sichern."
Wie das in der Praxis aussehen kann? "Gut funktionierende Familiensysteme machen es vor: Man tauscht sich aus und hilft sich gegenseitig. Was in der Familie als kleinster Einheit der Gesellschaft machbar ist, kann auch auf anderen Ebenen ausgehandelt und organisiert werden."
Silvia Bauernfeind hat ein gutes Beispiel für ein gelungenes Generationenprojekt in Kulmbach parat: den Schülerbesuchsdienst der Carl-von-Linde-Realschule. Jugendliche besuchen regelmäßig die Bewohner des Awo-Pflegeheims Am Rasen. Menschen, die zwei oder sogar drei Generationen trennen, verbringen Zeit miteinander, beschäftigen sich gemeinsam, hören einander zu, nehmen Anteil am Leben, den Wünschen, Sorgen und Gedanken der anderen, entdecken Verbindendes. "Gerade im Hinblick auf generationenpolitische Gestaltungsprozesse in einer sich wandelnden Gesellschaft ist ein wertschätzendes Klima zwischen den Generationen unerlässlich", sagt die Sozialpädagogin. "Auch der Generationenvertrag kann langfristig nur mit Generationensolidarität funktionieren."