Schon Simon & Garfunkel sangen von der Vereinsamung der Menschen in einer modernen, oberflächlichen Gesellschaft – vor fünfzig Jahren. Müssen wir uns deshalb weniger Sorgen machen – weil Gesellschaftskritik und Weltuntergangsstimmung schon immer zum guten Ton der Popkultur gehörten? Die Stille im Land, der „Sound of Silence“ – wie durch Zufall gerade wieder neu vertont in einer genialen Version von David Draiman – steht für den Mangel an echter Kommunikation.
Die Leute reden, aber es sind nur Worthülsen; sie nehmen Geräusche wahr, ohne richtig zuzuhören. Es bleibt kein Raum für Tiefgehendes. Und die Gesellschaft? Will davon nichts wissen, wendet sich ab, der Selbstauflösung entgegen.
Ist das alles nur Kulturpessimismus? Oder, wie der US-Musiker Bruce Springsteen gerade in einem Interview sagte: das „Jammern alter Männer, die beklagen, dass früher alles besser war“? Vielleicht. Es stimmt ja: Das iPhone hat unser Heimweh gekillt und das Internet (mit all seinen Scheinwelten) die Einsamkeit abgeschafft. Springsteen, 67, muss selbst zugeben: „Früher war der Rock?n?Roll einzigartig. Jetzt muss er mit vielen Technologien konkurrieren. Die Musik hat einen Bedeutungsverlust erlitten.“
Das hat die Musik mit anderen Bereichen in der Gesellschaft gemein. Auch der Sport gehört dazu – nicht die vom Fernsehen und der Industrie großzügig subventionierte Fußballbundesliga, sondern die Kulturen, die der Nährboden dafür sind, dass Spitzensport erst gedeihen und Gemeinschaft funktionieren kann.
Die vielen kleinen Vereine, im Ausland bestaunt und belächelt, sind und waren das soziale Rückgrat und der gesellschaftliche Kitt des Landes. Gerade in dieser institutionellen Krise werden sie dringender gebraucht als je. Denn Werte wie Gemeinschaftssinn und Solidarität lassen sich nicht im Reagenzglas selbst ernannter Sozialtheoretiker züchten, sie müssen organisch wachsen über Jahre und Jahrzehnte.
Vereine sind mit die am besten geeignete Brutstätte. Ihre Bindungskraft aber ist in dieser multimedialen Welt längst nicht mehr so stark wie zu Zeiten eines Kurt Tucholsky, der 1926 in seinem Gedicht „Das Mitglied“ bemerkte: „Da draußen bin ich nur ein armes Luder. Hier bin ich ich – und Mann und Bundesbruder (. . .).“
„Das einende Merkmal der Millennium-Generation ist ihre weinerliche Ich-Bezogenheit.“
Douglas Coupland, Bestseller-Autor
Vieles von dem, was Tucholsky einmal als den Stolz des Vereinslebens identifizierte, gilt heute als abstoßende Vereinsmeierei: Rituale der Einheit, Netzwerk der Freunde, Statuten als einigendes Band und abendfüllende Beschäftigung.
Und vielleicht ist genau dies das Problem: dass man Leute, die den Karren ziehen, als dumpfes Spießertum abtut; dass man sie verspottet für ihr traditionelles, ehrbares Mittelklassedenken, anstatt ihnen zu danken und Respekt zu bezeugen für etwas Sinnvolles und Wertvolles.
Der Verein steht Spalier bei der Hochzeit, er bildet das letzte Geleit, wenn der Bundesbruder zu Grabe getragen wird. Was man im Verein lernt, sei „einer Demokratie angemessen“, finden Politikwissenschaftler wie Hans-Georg Wehling von der Uni Tübingen. „Vereine oder vereinsähnliche Strukturen sind ein unverzichtbarer Bestandteil einer Zivilgesellschaft, ohne die Demokratie nicht überleben kann.“
Schon die großen Vordenker der Aufklärung wie Montesquieu oder Locke waren überzeugt, dass zwischen Staat und Bürgern noch eine dritte Kraft für eine demokratische Gesellschaft nötig sei. Doch viele Vereine leiden an der grassierenden Krankheit der Zivilgesellschaft. Die Symptome: akute Schwindsucht und eine virulente Teilnahmslosigkeit, stärker noch als in der Politik. Wer heute eine Mitgliederversammlung besucht, trifft in der Regel nicht einmal zehn Prozent der Wahlberechtigten. Oft sind es immer die selben. Die Vereine als Stützen der Demokratie stecken in der Krise.
Was passiert mit ihnen in Zeiten der Individualisierung, in denen die Gesellschaft zusehends in ihre Einzelteile zerfällt? Nicht einmal jeder zweite Deutsche ist heute noch Mitglied in einem Verein – und das, obwohl die Zahl der Vereine seit 1970 um das Fünffache gestiegen ist: auf aktuell 600 000. Die Apologeten des Untergangs, sie kommen aus allen Ecken und von allen Enden der Gesellschaft. Vom Stadtverein mit 1200 Mitgliedern ebenso wie vom Dorfklub mit 200 Getreuen.
Wer übernimmt ihre Rolle, wenn es sie und ihre Angebote nicht mehr gibt? Das ist die große Frage zu Beginn des Jahrtausends. Die Vereine werden sich öffnen müssen – für die Bedürfnisse älterer Menschen, für freiere, flexiblere Angebote, für innovative Führungsmodelle. Das größere Problem ist damit jedoch nicht gelöst.
Ein Vereinsvorsitzender, seit mehr als vierzig Jahren aktiv, erzählt bei sporadischen Redaktionsbesuchen vom wachsenden Desinteresse der Jugend. Einer Jugend, die geschluckt wird von einem Monstrum namens Globalisierung, besessen vom Dämon der Selbstverwirklichung und immun gegen die Hilferufe aus der Mitte der Gesellschaft. „Jeder ist heute sein einzigartiges Universum“, sagt der Bestseller-Autor Coupland im SZ-Gespräch.
„Das einzige gemeinsame Merkmal der Millenium- Generation ist ihre weinerliche Ich-Bezogenheit.“ Coupland schildert in seinem 1991 erschienenen Roman eine Generation junger, rastloser Menschen, die an dieser Welt zu verzweifeln drohen durch innere Leere und aufkeimende Globalisierung. Könnte man über die heute Zwanzigjährigen ein Buch wie Generation X schreiben? Nein, meint Coupland. Das Internet hat die Zersplitterung in Mikrokulturen binnen kürzester Frist so weit vorangetrieben, dass Generationenporträts Unsinn geworden sind.
Die Folgen sind schon heute fast überall im Land zu spüren – nicht nur, aber auch in den Vereinen. Es gibt noch Biotope, in denen die Kärrner und Kümmerer nicht vom Aussterben bedroht sind, aber man braucht mittlerweile das Navigationsgerät, um sie zu finden. Die in Statistiken immer noch steigende Zahl an Ehrenamtlichen in diesem Land hat mit der Realität vielfach nichts zu tun.
Aber muss einen das ernsthaft wundern in einer Zeit, in der die Effizienzprediger jeden Handgriff auf sein Gewinnversprechen hin vermessen und eine Kolonie von Coaches und Therapeuten uns lehrt, wie man Nein sagt. Vor zehn Jahren sang die Band „Tocotronic“ in einem wilden, kleinen Lied: „Sag alles ab, geh einfach weg.
Schalt die Maschine ab und frag nicht nach dem Zweck.“ Das Wort Nein ist ursprünglich mal zum Selbstschutz erfunden worden – vor maßlosen Chefs, vor allzu aufdringlichen Verehrern. Heute ist es einfach in allen Lebenslagen schick.
„Machen Sie sich frei von ungeliebten Verpflichtungen, Scham und Schuld.“
Sarah Knight, Autorin
In unserem Alltag setzt sich der Hang zur Antihaltung fort. Die Zeiten, in denen Harald Schmidt im Fernsehen „Ja zu deutschem Wasser“ sagte, sind längst vorüber. Grenz dich ab, gönn dir Ruhe, geh am besten allem aus dem Weg. Die meisten halten es mit der Weisheit Wilhelm Buschs: „Willst du nicht zu früh ins Grab, lehne jedes Amt gleich ab.“ Die Sorge, das eigentliche Leben zu verpassen, fremdbestimmt zu sein, ist inzwischen weitaus größer als die Bereitschaft, dieser Gesellschaft zu dienen und Verantwortung für andere zu übernehmen.
„Machen Sie sich frei von ungeliebten Verpflichtungen, Scham und Schuld“, empfiehlt die Autorin Sarah Knight. Vielleicht sollte ihr mal einer erzählen, wie unser Land und unsere Gesellschaft zu dem geworden sind, was sie heute sind. Bestimmt nicht durch Wegschauen, Ablehnen, Wegducken. „Es gehört zu den unausgesprochenen Regeln unseres Zusammenlebens, dass der Mensch seine Zeit und seine Nerven anderen zur Verfügung stellt“, entgegnet Meredith Haaf in der ZEIT. „Nicht ununterbrochen, aber ganz sicher auch nicht nur dann, wenn es ihm gerade in den Kram passt.“
Wie soll humanes Miteinander funktionieren, wie sollen die gesellschaftlichen Grundwerte erhalten bleiben, wenn wir im Umgang miteinander immer nur an das eigene Wohlbefinden und den eigenen Profit denken? Bevor es all die pseudosozialen Netzwerke gab, mussten sich die Menschen eben im Verein, in der Nachbarschaft oder in der Gemeinde beweisen – in Bereichen, die einige nur noch vom Hörensagen kennen.
Wer menschliches Miteinander darauf beschränkt, den eigenen individuellen Lebensentwurf zu stärken, wird dadurch nicht freier. Das ewige Nein zu den anderen und das ekstatische Ja zu uns selbst isoliert uns, prägt das Bild des Menschen als hypereffizienter Ich-AG in einer Zeit, da jede zwischenmenschliche Regung zum Geschäft degradiert.
Es gibt Tage, da sehnen auch wir uns nach etwas mehr Mitgefühl und Wärme. Da würden auch wir gerne etwas länger im Augenblick verweilen. Da wünschen auch wir uns, dass einer auftaucht wie Momo und die grauen Herren, die aus nichts als gestohlener Zeit bestehen, zerstäubt. Damit die Kälte in dieser Gesellschaft weicht und alle Stundenblumen auftauen. Es wird wohl ein frommer Wunsch bleiben.