Zermürbt statt geheilt
Autor: Daniela Röllinger
Kitzingen, Montag, 21. November 2016
Vom Schreibtisch aus gesund attestiert: Ein Depressiver im Streit mit der Kasse. Die hat ihm das Krankengeld gestrichen und ihm attestiert, gesund zu sein. Ohne jegliche Untersuchung.
Thomas Müller (Name geändert) fährt sich mit der Hand über den Kopf. „So habe ich sonst nicht ausgesehen.“ Seine Haare sind etwas zu lang, das Gesicht ist blass, dunkle Schatten liegen unter den Augen, der Blick wandert unstet hin und her. Der Satz und die Geste wirken verzweifelt. Dass Thomas Müller unter Depressionen leidet, merkt man ihm an – seine Umgebung, seine Freunde, sein berufliches Umfeld bekommen es mit. „Nicht arbeitsfähig“, sagen die Ärzte. Die Krankenkasse sieht es anders. Sie hat ihm das Krankengeld gestrichen und ihm attestiert, gesund zu sein. Ohne jegliche Untersuchung.
Die Haare ein paar Zentimeter zu lang? Für die meisten Menschen wäre das kein Problem. Für Thomas Müller, einen Mann aus dem Großraum Würzburg, der nicht erkannt werden will, ist es eins. „Ich schaffe es nicht zum Friseur“, sagt er und macht eine kurze Pause. „Ich schaffe es nicht aus dem Bett.“ Er atmet durch, den Blick starr auf das Fenster gerichtet. „Eigentlich schaffe ich gar nichts.“ Es ist ein Satz, der unter die Haut geht. So wie seine ganze Geschichte.
Dass der Weg zum Herrenfriseur für ihn mal zur unüberwindlichen Hürde werden könnte, hätte Thomas Müller nie gedacht. „Der, der ich früher mal war, hatte einen hohen Anspruch an sich.“ Er wollte der Beste sein, hängte sich rein, um allen gerecht zu werden, legte die Messlatte für sich selbst immer am höchsten. Erfüllen kann er diesen Anspruch schon lange nicht mehr.
Es begann vor weit über einem Jahr. „Da ging es mir nicht so gut.“ Der Betriebsarzt erkannte das, schickte ihn nach Hause. Er sei nicht arbeitsfähig, solle zum Hausarzt. Der schrieb ihn krank. Danach kam Müller zurück in die Firma. Es war eine schwierige Phase im Betrieb, das hinterließ Spuren. Wieder wurde er zum Arzt geschickt. Der stellte die Diagnose: Depression. Müller begann eine Psychotherapie.
Weit über ein Jahr ist das her – und seitdem ist er krank geschrieben. Was anfangs auch kein Problem war. Doch dann hat er keine Post mehr geöffnet. „Ich konnte es nicht.“ Briefe der Krankenkasse blieben liegen, seine Krankmeldungen gab er teilweise zu spät ab. „Dass ich in diesen Fällen kein Krankengeld bekommen habe, kann ich nachvollziehen. Ich war ja selber schuld.“ Müller wurde zum Gespräch bei der Krankenkasse einbestellt, sollte ein Formular unterzeichnen, der Kasse Einblick in seine Krankenakten und Kontakt zum Arbeitgeber erlauben. „Das habe ich nicht gemacht. Ich sagte denen, das sei ja nur zu meinem Nachteil.“
Die Krankschreibungen liefen weiter, Arzt und Therapeut war klar: Der Mann kann nicht arbeiten. Trotzdem kam im Frühjahr die Mitteilung von der Krankenkasse, dass der Medizinische Dienst ihn wieder für arbeitsfähig halte. „Aber die hatten mich ja gar nicht untersucht. Und Einblick in meine Akten hatten sie auch nicht, weil ich das ja nicht erlaubt hatte.“ Müller vermutet: Das halbe Jahr Krankheit ist bei einem Depressiven Standard, danach muss es wieder gehen.
Er erhob Einspruch, der Arzt schickte ein Attest an die Kasse. „Der Einspruch wurde abgelehnt, die Krankmeldungen hat die Kasse einfach ignoriert.“ Müller legte Einspruch beim Sozialgericht ein. Allerdings formell nicht richtig, wie sich später herausstellen sollte.