Das Leben im Kitzinger Notwohngebiet: Nicht jeder schafft den Absprung

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Matthias Nuß ist dem Notwohngebiet entkommen – und doch zieht es ihn immer wieder dahin zurück. Unter anderem seine Mutter lebt noch hier. Und die 85-Jährige will auch nicht weg.
Sandra Denk sieht, wie ihre Schwester Karin leidet. Karin Denk lebt seit 16 Jahren im Kitzinger Notwohngebiet. FOTO Diana Fuchs
Diana Fuchs
Matthias Nuß erzählt Redakteurin Julia Schneider im Stern-TV-Interview von seinem Lebensweg. Als einer der wenigen hat er den Absprung aus dem Notwohngebiet geschafft.
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Die „Mama“ in der Egerländer Straße 26: Mit 85 Jahren ist Margareta ein Urgestein im Notwohngebiet. Sie will hier nicht mehr weg ...
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Noch wie vor 40 Jahren: Matthias Nuß zeigt auf seinem Handy eine alte Aufnahme. Der Wohnblock im Hintergrund hat sich nicht verändert.
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Loch zum Kamin: Karin Denk zeigte den Pressemenschen auch diesen Mangel in ihrer Wohnung. Mittlerweile ist das Loch geschlossen ...
Diana Fuchs
Wände, Fenster, Decken: Karin Denks Wohnung ist voller Schimmel. Doch die Stadt hat zumindest in ihrem Fall sofort reagiert und Handwerker geschickt. FOTO Diana Fuchs
Diana Fuchs

Männer aus dem Notwohngebiet in Kitzingen erzählen von ihrem Leben.

Matthias Nuß ist kein Notwohner mehr – schon seit Jahrzehnten nicht mehr. Aber er kommt regelmäßig zu Besuch in die „Egerländer“ in Kitzingen. Er sagt: „Dort ist seit Jahrzehnten nicht viel gemacht worden, die Wohnungen verfallen immer mehr. Das ist doch kein Zustand.“

„Hätte ich meine Frau nicht getroffen, wäre mein Leben anders verlaufen“, weiß Matthias Nuß. Der heute 44-Jährige war noch ein junger Kerl, als er Diana Nuß begegnete. Er verliebte sich in die junge Frau aus Volkach – und sie sich in ihn. Die beiden heirateten und Matthias nahm den Nachnamen seiner Frau an. „Weil man mit meinem Namen überall das Notwohngebiet verband.“ Matthias wollte das „Stigma“ ablegen. Heute wohnt das Paar in Abtswind, kommt aber regelmäßig zu Verwandtenbesuchen zurück ins Kitzinger Notwohngebiet.

Ein Teufelskreis

Aber ist es wirklich so schlimm? Werden wirklich alle Menschen aus dem Notwohngebiet mit dem imaginären Stempel „unerwünscht“ versehen? Nach Matthias‘ Erfahrung ist das tatsächlich so. „Wenn deine Adresse Egerländer 22, 24 oder 26 beziehungsweise Tannenberg 37 lautet, dann geht in und um Kitzingen nichts. Da kriegst du keinen normalen Job.“ Und ohne Job, also ohne Geld, komme man nicht raus aus dem Notwohngebiet. Ein Teufelskreis.

Das kann Ralf Scheller nur bestätigen. „Um hier wegzukommen, braucht man mal so 3000 Euro flüssig – von der Kaution für eine neue Wohnung bis hin zu Klamotten für den Start. Wenn du das Geld nicht hast, bleibste eben da.“ Ralf Scheller hat das schon mehrmals am eigenen Leib erlebt. „Zum ersten Mal bin ich mit 17 ins Notwohngebiet gekommen. Zusammen mit meiner Mutter, die ihren Job verloren hatte und in die Sozialhilfe gerutscht war. Daraufhin konnte sie die Wohnung nicht mehr halten und wir landeten im Notwohngebiet.“ Drei Jahre blieb Ralf mit seiner Mutter dort wohnen, dann – nach seiner Metzgerlehre – ging er zur Bundeswehr, wo er eine Ausbildung zum Koch machte, allerdings nicht mit einem Zertifikat abschloss.

Nach vier Jahren beim „Bund“ heuerte Ralf Scheller auf einem Schiff an, wo die Kombüse sein Metier war. „Ich wollte halt Geld verdienen – und da gab es mehr Geld als in der Metzgerei.“ Der heute 43-Jährige arbeitete auch als Bauhelfer und für ein Jahr sogar als Kneipier, als Mitbetreiber des ehemaligen „Fässle“ am Kreisverkehr Richtung Mainstockheim. Das Dasein als Gastwirt war jedoch nicht von finanziellem Erfolg gekrönt – im Gegenteil –, weshalb Ralf Scheller wieder auf Gelegenheitsjobs auswich.

Irgendwann wurde er wegen Bedrohung verurteilt, landete im Knast. Wieder auf freiem Fuß, war es unmöglich, auf dem freien Markt eine Wohnung zu bekommen. „Mit dem Stempel 'Knast‘ bleiben dir nur die Notwohnblocks.“

 

Ralf Scheller, der weder Frau noch Kinder hat, scheint sich mit seinem „Schicksal“ mittlerweile abgefunden zu haben. „Ich lande immer wieder da.“ Generell sei man als Notwohner im ganzen Landkreis verschrien, und es sei schwierig, überhaupt einmal zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen zu werden. „Das Stigma haftet einfach an uns: Die können sich ja noch nicht mal richtig waschen! Das sind doch alles Randalierer.“

Dabei stimme Letzteres nicht – für die Dauermieter schon überhaupt nicht. „Die, die randalieren, so dass die Polizei ausrücken muss, sind meistens Jugendliche und ihre Kumpels. Aber nicht die Dauermieter!“ Matthias Nuß muss es wissen, denn ein Teil seiner Verwandten lebt noch immer im Notwohngebiet, unter anderem seine Mutter Margareta. Die 85-Jährige will hier auch nicht mehr weg. „Einen alten Baum verpflanzt man nicht“, hat sie Matthias und Diana Nuß zur Antwort gegeben, als diese sie zu sich nach Abtswind holen wollten. Margareta lebt im Parterre der Egerländer Straße 26 und ist für viele „Alteingesessene“ so etwas wie eine Notwohn-Mama.

Sie erfüllt noch immer das alte Motto mit Leben, das sich die ersten Blockbewohner, die Schrotthändler, einst auf die Fahnen geschrieben hatten: „Einer für alle, alle für einen.“ Wenn der 65-jährige Nachbar Wolfgang Schermer zu Besuch kommt, kriegt er einen Kaffee, umgekehrt repariert er gerne mal eine Kleinigkeit in Margaretas Wohnung.

„So komme ich hier nie raus“

Nicht so gut mit der Situation arrangiert hat sich der 32-jährige Uche Nonye. Der gebürtige Nigerianer hält sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser, vermisst aber seine beiden Kinder. Er will sie andererseits auch nicht zu sich einladen, weil seine prekäre Wohnsituation mit dem Gemeinschaftsklo ihm selbst „zu peinlich“ ist. Am liebsten würde er eine Ausbildung zum Automechaniker machen – „aber wer nimmt mich schon?“, fragt er in gebrochenem Deutsch. Allein im Januar habe er zwölf Bewerbungen geschrieben, aber nur Absagen bekommen. „So komme ich hier nie raus.“

ONLINE-TIPP

Mehr Informationen, Bilder und Videos zum Thema Notwohngebiet unter www.inFranken.de