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Depression: Strampeln gegen ein Tabu


Autor: Robert Wagner

Kitzingen, Donnerstag, 21. Juli 2016

Menschen mit Depressionen werden häufig stigmatisiert. Die "Mut-Tour" will das ändern. Ein Gespräch über eine tabuisierte Volkskrankheit.
Bei Wind und Wetter, über Stock und Stein. Das Ziel ist es, auf eine tabuisierte Krankheit aufmerksam zu machen.


Es ist wieder spät geworden. Im Westen, auf der anderen Seite des Mains, verschwindet die Sonne langsam hinter den Sulzfelder Weinbergen. Im rötlichen Abendlicht bauen Sebastian Burger und seine fünf Mitstreiter eilig ihre Zelte auf. Kurz nach Marktsteft, zwischen dem Main und einem Schrebergarten, haben die sechs Radler der „Mut-Tour“ ein idyllisches Plätzchen gefunden.

Insgesamt 50 Menschen legen mit drei Tandems rund 7300 Kilometer quer durch Deutschland zurück. Vom 4. Juni bis zum 3. September sind sie dafür in Sechsergruppen abwechselnd auf zwölf Etappen unterwegs. In den Städten auf der Strecke macht die Gruppe halt, versucht mit den Einwohnern ins Gespräch zu kommen. Dabei haben sie ein Ziel: Über die Depression als Erkrankung aufklären. Der Großteil der Fahrer ist oder war selbst an Depressionen erkrankt.

„Eigentlich sind es ja mindestens drei Ziele“, sagt Bastian. Die Aufklärung der Öffentlichkeit ist nur eins davon. Die Radler wollen auch Betroffenen Hoffnung geben, einen möglichen Weg aus der Depression zeigen. „Strukturen und sportliche Aktivitäten sind sehr wichtig für Erkrankte“, sagt Bastian. Er meint damit auch sich selbst. Seine erste depressive Phase begann mit Abgeschlagenheit, Antriebslosigkeit und Erschöpfung. Bei der Arbeit lief wenig. „Zuerst dachte ich, ich hätte einen Infekt.“ Doch die Beschwerden wurden schlimmer.

Immer wieder hat er seitdem solche Phasen. Dann geht gar nichts mehr. Und sonst? Ist er leistungsfähig, aktiv, fröhlich. Arbeitet als Freiberufler unter Druck an Terminaufträgen. „Wir können was, wir trauen uns was.“ Dass zu zeigen, ist das dritte Ziel der Mut-Tour.

Denn wie viele Menschen würden schon in einer kleinen Gruppe mit fremden Menschen quer durch Deutschland fahren, ohne genau zu wissen, wo man am Abend übernachten kann? Ein Zeichen an die Öffentlichkeit, ein Zeichen aber auch an sich selbst.

Sebastian Burger versucht schon lange den Begriff des „Depressionserfahrenen“ zu etablieren. „Erkrankte werden oft nur als Opfer behandelt“, sagt der Initiator der Mut-Tour. Von der Öffentlichkeit, von Arbeitgebern, von Bekannten, Ärzten und Therapeuten. Und das eben auch, wenn sie ihre depressive Phase überwunden haben. Das zwinge sie in eine Position der Schwäche.

Der Begriff Depressionserfahrene hingegen verweist auf Stärken: Die Fähigkeit, sich selbst besser wahrzunehmen, auf seinen Kopf und Körper zu hören. Vielleicht auch, Warnsignale bei anderen Menschen früher zu erkennen. „Man spürt auch so etwas wie Demut vor dem Leben“, sagt Bastian. Ähnlich wie Menschen, die andere schwere Krankheiten überstanden haben.

Doch anders als bei Krebs oder Herzinfarkten, seien Depressionen für Außenstehende schwer zu begreifen. Ines weiß das aus erster Hand. Sie ist eine der Nicht-Betroffenen, die dieses Jahr bei der Mut-Tour mitfahren. „Mein Ex-Freund litt an einer Depression.“ Er habe es nicht einsehen wollen, habe sich nicht helfen lassen. Für Ines war es schwer, mit der Situation umzugehen. „In Tiefphasen können Depressive sehr schwierig sein“, weiß Bastian. Sie neigen dazu, zu klammern, den Partner und Freunde zu vereinnahmen. Irgendwann könnten dann auch die Angehörigen nicht mehr, die Situation werde unerträglich. Damit es nicht dazu kommt, hat Bastian einen Tipp: Als Angehöriger müsse man sich manchmal auch abgrenzen. Das Wichtigste sei aber: „Alle sollten offen miteinander reden.“

Doch das mit der Offenheit ist so eine Sache. Das weiß auch Herbert. Schon als Jugendlicher hatte er Depressionen. Fünf Geschwister, die Eltern getrennt, die Mutter alkoholkrank. Herbert musste sich schon früh um alles kümmern. Unter immensen Druck quälte er sich durch Schule und Studium. „Ich weiß heute nicht, wie ich das geschafft habe.“

Dann hatte er fast 40 Jahre Ruhe. Es ging ihm gut, bis im Privatleben wieder Probleme aufkamen. „Jede Kleinigkeit, jedes falsche Wort warf mich aus der Bahn“, erzählt Herbert. Dann saß er vor dem Haus, spürte Leere und Schwärze um sich herum, „wie in einem Tunnel“. Sein Blick schweifte umher. „Ich hab nur überlegt: An welchem Baum häng ich mich auf?“ Solche Gedanken und Gefühle zu teilen, sei schwierig. Auch wegen Reaktionen, die oft nicht weiterhelfen, ja sogar schaden können.

Da gibt es jene, die bagatellisieren: „Das schaffst du schon“, hören die Betroffenen oft. „Reiß dich mal zusammen“, oder „Tritt dir mal in den Arsch“, sind weniger freundliche Varianten dieses Spruches. Auch heute noch würden psychische Krankheiten von vielen Menschen nicht ernst genommen. Sebastian Burger erinnert sich an ein Interview mit einer Journalistin. Die habe Depressionen mit „ernsten“ und „richtigen“ Krankheiten verglichen. Als sei Depression keine ernsthafte Erkrankung.

Auf der anderen Seite stehen jene Menschen, die die Krankheit überhöhen. Oft sind das die Arbeitgeber. „Als ich meinem Chef gesagt habe, dass ich Depressionen habe, sind ihm die Gesichtszüge entglitten“, erzählt Herbert. Was kannst du dann überhaupt noch arbeiten, habe sein Vorgesetzter zunächst erschrocken gefragt. Heute macht Herbert den gleichen Job wie vor der Erkrankung, arbeitet weiter in einer Führungsposition.

Doch leider laufe es nicht immer so. Unwissenheit führe dazu, dass Depressionserfahrene für manche Arbeitgeber ein rotes Tuch sind. Das könne schon dazu führen, dass befristete Verträge nicht verlängert oder ein Auszubildender nicht übernommen werde.

Sebastian Burger und seine Mitfahrer wollen das ändern. Das erfordere allerdings Mut. Mut, als Betroffener offen mit seiner Krankheit umzugehen. Mut, als Nicht-Betroffener auf Erkrankte zuzugehen. Und Mut der Gesellschaft, den Betroffenen weiter etwas zuzutrauen und sie nicht anders zu behandeln. Dafür sprechen sie täglich mit dutzenden Leuten. Und dafür strampeln sie sich weiter täglich ab.

Weitere Informationen

Die Mut–Tour fährt vom 4.6. bis zum 3.9. quer durch Deutschland. Alle Interessierten sind eingeladen, einige Kilometer mit den Teilnehmern mitzufahren und ins Gespräch zu kommen.

Für die Etappen 6 (Berlin-Kiel) und 7 (Kiel-Bremen) werden noch Mitfahrer gesucht.

Weitere Infos zur Tour, einen Strecken- und Zeitplan sowie Infos zu Depressionen unter: www.mut-tour.de

Anlaufstellen in Kitzingen:

Selbsthilfe- und Helfergruppen im Landratsamt, Kaiserstraße 4, lra@kitzingen.de, Tel. (0 93 21) 92 80 Selbsthilfegruppe Depression, Schleifweg 24, Tel.Tel.(0 93 21) 9 26 99 01,

Sozialpsy. Dienst, spdi@kvwuerzburg.brk.de, Tel. (0 93 21) 2 27 10

Anlaufstellen in Volkach:

„Der Weg zurück ins Leben“, Sonnenstraße 6, info@dieser-weg-zurueck.de, Tel. (0 93 81) 71 74 01.



Kommentar

Wenn die Seele bricht

Fast jeder hat sich in seinem Leben schon einmal einen Knochen gebrochen. Und selbst jene, denen dieses Unglück bisher erspart geblieben ist, können sich vorstellen, was es heißt, nicht laufen oder seinen Arm nicht bewegen zu können. Doch was ist, wenn nicht der Knochen, sondern die Seele bricht?

Psychische Krankheiten sind für Außenstehende so schwer zu verstehen, weil sie irrational sind. Wenn das Bein bricht, dann tut es weh. Der Schmerz hat einen Sinn: Er sagt dem Kopf, da stimmt was nicht, belaste das Bein nicht, trete nicht auf! Und so bleibt man liegen.

Bei Depressionen gibt es das nicht. Der Betroffene bleibt liegen, obwohl er doch aufstehen könnte. Es gibt keinen „objektiven“ Grund, beziehungsweise muss es ihn nicht geben. Und so ist man versucht, zu rufen: „Nun steh doch auf.“ Doch Verletzungen der Seele, die Außenstehende nicht sehen und nicht verstehen können, schmerzen den Betroffenen nicht weniger als ein gebrochener Fuß.

Im Gegenteil: Der kaputte Fuß stört beim Laufen, die Hände kann man derweil noch sehr gut benutzen. Doch bei Depressionen scheint plötzlich nichts mehr zu gehen. Betroffene beschreiben immer wieder eine abgrundtiefe Leere und Schwere, die alles Denken und Handeln unmöglich macht.

Von vielen Menschen wird das als Schwäche ausgelegt. Deshalb ist irgendwann der Begriff „Burnout“ entstanden. Der Fokus wird so von der vermeintlichen Schwäche auf die Leistung vorher verschoben: Man hat in kurzer Zeit alles gegeben, deshalb ist man jetzt ausgebrannt. Bezeichnenderweise wurde der Begriff Burnout zunächst bei Karrieremenschen benutzt. Gerade sie durften ja keine Schwäche zeigen.

Doch eine Depression ist eben kein Zeichen dauerhafter Schwäche. Depressionen können jeden treffen – so wie sich auch jeder mal ein Bein brechen kann. Doch sie können eben auch wieder verheilen. Mit der richtigen Behandlung kann die Seele genauso stark werden wie vorher. Vielleicht sogar stärker – so wie der gebrochene Knochen.