„Sehr gefährliche Entwicklung“
Autor: Diana Fuchs
Kitzingen, Freitag, 19. August 2022
Marion Flügel ist keine Pessimistin. Aber wenn die Apothekerin die Lage auf dem Medikamentenmarkt analysiert, klingt das bedrohlich: „Du siehst die Titanic ganz langsam auf den Eisberg zufahren und hörst nur immer, es werde schon nichts passieren.“ Bernward Unger, Sprecher der unterfränkischen Apotheker, sagt: „Die Krankenkassen pressen das System aus, bis es ausgeblutet ist.“ Was bedeutet das für die Versorgungssicherheit der Patienten?
Marion Flügel ist keine Pessimistin. Aber wenn die Apothekerin die Lage auf dem Medikamentenmarkt analysiert, klingt das bedrohlich: „Du siehst die Titanic ganz langsam auf den Eisberg zufahren und hörst nur immer, es werde schon nichts passieren.“ Bernward Unger, Sprecher der unterfränkischen Apotheker, sagt: „Die Krankenkassen pressen das System aus, bis es ausgeblutet ist.“ Was bedeutet das für die Versorgungssicherheit der Patienten?
Fakt ist, dass aktuell bei 269 Medikamenten – darunter Schmerzmittel, Krebsmittel und Antidepressiva – ein Lieferengpass besteht. Das ist nachzulesen auf den Seiten des Bundesinstitutes für Arzneimittel und Medizinprodukte. Sowohl Bernward Unger (Weingarten-Apotheke Dettelbach) als auch Marion Flügel (Marien-Apotheke Wiesentheid, Apotheke am Markt in Schwarzach, Kronenapotheke Schweinfurt) sagen, die Lage sei schwierig, die Entwicklung „sehr gefährlich“.
„Die Arzneimittel, die fehlen, sind in den letzten Wochen spürbar mehr geworden. Darunter sind Allerweltsmedikamente, von denen man nie geahnt hätte, dass sie mal nicht herzukriegen sein würden“, stellt Unger fest. Flügel ergänzt: „Es ist überaus anstrengend und zeitraubend, wenn man Ware nicht kriegt und deshalb nach Ersatzprodukten fahnden muss.“ Auch die Patienten seien gezwungen, flexibel zu sein – statt Saft müsse man sich zum Beispiel mit Zäpfchen behelfen oder mit zermörserten Tabletten. „Unser System spart den Krankenkassen Milliarden, aber Apotheken, Hersteller und Patienten leiden.“ Das habe mit der Globalisierung zu tun, mit dem Auslagern von Produktionsstätten ins oft weit entfernte Ausland – und mit der Preispolitik in Deutschland.
Hat man ahnen können, dass es derartige Lieferschwierigkeiten geben könnte? Marion Flügel bejaht das: „Es gab schon vor Corona Schwierigkeiten – zum Beispiel hat man manche Medikamente nicht in der richtigen Qualität bekommen.“ Jetzt kommt erschwerend dazu, dass Lieferketten einfach abreißen. Ausfälle durch Corona oder Quarantäne, genereller Personalmangel, Hafen-Blockaden, nicht verschiffte Container, zusammenbrechende Logistik: „Jetzt kommt alles zusammen.“
Warum müssen wir überhaupt so viele Medikamente importieren? „90 Prozent der Arzneimittel werden nicht mehr in Deutschland hergestellt“, erklärt die Fachfrau. „Arzneimittelhersteller gehen dahin, wo sie am billigsten produzieren können – oft ist das nicht mal mehr in Europa, sondern in Indien und China, wo die Löhne sehr niedrig sind.“ Ethische Standards bei der Produktion? „Fehlanzeige.“
Sind also geizige Hersteller schuld am Dilemma? Marion Flügel schüttelt den Kopf und erklärt, dass gerade kleinere Hersteller selbst auch „Getriebene“ seien: Normalerweise forscht ein Hersteller erst einmal jahrelang, bis er die Zulassung für ein Medikament bekommt. In dessen Preis rechnet er die Forschungszeit ein. „Früher hatte dieser Preis zehn Jahre lang Bestand, so lange ging der Patentschutz.“ Mittlerweile überprüfe ein Bundesausschuss, in dem die Krankenkassen stark vertreten sind, schon nach einem Jahr, ob das Medikament wirklich so innovativ ist, dass der Patentschutz weiterhin bestehen soll. „Oft wird das dann verneint, um den Preis zu drücken. Das führt dazu, dass Hersteller ihr Produkt schon nach einem Jahr wieder vom Markt nehmen, weil sich dessen Produktion für sie nicht lohnt.“
Preis-Druck auf die Produzenten üben zudem die seit 2014 bestehenden Rabattverträge aus, zählt Marion Flügel weiter auf. Dieses Rabattsystem brachte den Krankenkassen große Einsparmöglichkeiten und sollte den Unternehmen große Absatzmengen garantieren. Doch das System hat laut Marion Flügel gravierende Mängel: „Die Krankenkassen, von denen die großen natürlich die größte Marktmacht haben, schreiben Wirkstoffe aus und vergeben den Auftrag an den günstigen Anbieter. Alle anderen Produzenten – also die kleineren, die bei dem Niedrigpreis nicht mithalten können – kommen nicht zum Zug und stellen die Produktion ein.“