Heidingsfeld: Scham, Angst, Betroffenheit
Autor: Ralf Dieter, Robert Wagner
Kitzingen, Mittwoch, 20. Juli 2016
Der Tag danach. Nach dem Amoklauf von Heidingsfeld. Es gibt neue Erkenntnisse. Neue Forderungen. Neue Ängste. Und neue Fragen. Wie junge Flüchtlinge und ihre Betreuer im Landkreis auf den Amoklauf reagieren.
Der Attentäter von Heidingsfeld stammte wahrscheinlich nicht aus Afghanistan – und war älter als 17 Jahre. Wie kann es dann sein, dass er zwei Jahre lang als Unbegleiteter minderjähriger Flüchtling (UmF) in Ochsenfurt untergebracht war? Laut Bernd Adler, Leiter des Sozialen Dienst im Landkreis, unterscheidet sich das Vorgehen bei jugendlichen Flüchtlingen von dem bei Erwachsenen. „Eine erkennungsdienstliche Erfassung gibt es nicht.“ Viele Jugendliche hätten zwar Unterlagen dabei, oft sei man jedoch auch auf deren Angaben angewiesen, wenn es um Name, Alter und Herkunft gehe.
Viele wüssten ihr Geburtsdatum aber nicht. „Das hat auch kulturelle Gründe“, erklärt Adler. In Ländern wie Afghanistan hat das Alter keine Bedeutung. Jugendschutz, Verbot von Kinderarbeit, Schulpflicht – all jene Dinge, bei denen das Alter eine Rolle spielt, gebe es in solchen krisengebeutelten Gebieten oft nicht. In den deutschen Jugendämtern schätzen Experten deshalb das Alter und prüfen die Plausibilität der Angaben.
„Wir haben letztes Jahr von etwa 100 Jugendlichen zwei zu den Erwachsenen geschickt, weil sie offensichtlich älter waren“, erzählt Adler.
Der Attentäter von Heidingsfeld stammte offensichtlich aus Pakistan. Muss das den Behörden nicht auffallen? Bei den Gesprächen sind Dolmetscher dabei, berichtet Adler. Die könnten aber auch nicht jede Sprachfärbung erkennen. „Dass unzählige Flüchtlinge einreisen konnten, weil sie sich als Syrer ausgegeben haben, das stimmt so nicht“, sagt er. Aber es könne schon passieren, dass man als Afghane durchgeht, auch wenn man im pakistanischen Grenzgebiet aufgewachsen ist.
Etwa 750 UmF leben derzeit in Unterfranken. Im Landkreis Kitzingen gibt es Wohnheime in Marktbreit, Wiesenbronn und Kitzingen. Die Bestürzung am Tag danach ist bei den Jugendlichen riesengroß. Zwischen Scham, Betroffenheit und Angst lägen die Gefühle, wie Alexander Lunau berichtet. Der Sozialpädagoge ist der Einrichtungsleiter in Kitzingen, wo derzeit 22 Jugendliche in zwei Gruppen leben.
„Zwei unserer Jugendlichen wollten partout nicht in die Schule gehen“, berichtet er. „Weil sie sich für die Tat des Attentäters schämten.“ In manchen Klassen sei es auch zu verbalen Anfeindungen gekommen. „Es ist doch ganz klar, dass die Menschen jetzt Angst haben“, sagt Gerald Möhrlein, Kreisvorsitzender der AWO. Eine Gefahr gehe von den UmF aber nicht aus.
„Viele fliehen ja gerade vor dem IS, der Gewalt und dem Terror“, sagt Johannes Hofmann, der Leiter der zwei UmF-Wohngruppen von der Rummelsberger Diakonie in Wiesenbronn. Er hat eng mit den Jugendlichen zu tun. Eine Erklärung, wie es zu der Tat kommen konnte, hat er auch nicht. „Wir wären blind, wenn wir behaupten würden, so etwas könne nicht vorkommen.“ Man müsse sich nur einmal den psychologischen Hintergrund dieser jungen Menschen vor Augen führen: Sie kommen aus Kriegsgebieten, sind traumatisiert. „Viele schlafen die ersten Wochen nur angezogen, bei Licht und offener Tür“, erzählt Hoffmann.