Druckartikel: "Als würde ich nicht mehr existieren": Wie Kinder unter Corona leiden - und was Eltern vorleben sollten

"Als würde ich nicht mehr existieren": Wie Kinder unter Corona leiden - und was Eltern vorleben sollten


Autor: Daniela Röllinger

Kitzingen, Dienstag, 28. Dezember 2021

Die Spuren von knapp zwei Jahren Corona-Krise sind nicht zu übersehen - immer mehr junge Menschen und Familien suchen bei Beratungsstellen Hilfe. Der unterfränkische Psychologe Andreas Laurien warnt: Die Entwicklung sei besorgniserregend.
Knapp zwei Jahre Corona-Krise hinterlassen ihre Spuren: Die Kräfte lassen nach, die Menschen sind erschöpft - sowohl Erwachsene als auch Kinder. Immer mehr suchen bei Beratungsstellen Unterstützung.


Das E-Mail-Postfach ist voll, das Telefon steht an manchen Tagen kaum still: Die Zahl der Anfragen bei der Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Erwachsene in Kitzingen hat sich in der Pandemie verdoppelt, in manchen Wochen sogar verdreifacht. Junge Leute mit psychischen Problemen, Kinder, die in der Gruppe nicht mehr zurechtkommen, erschöpfte Menschen jeder Altersgruppe: Corona hinterlässt Spuren.

Maske, Abstand, testen, möglichst wenig Leute treffen. All das gehört seit fast zwei Jahren zum Alltag. Von Normalität wird trotzdem niemand sprechen. Die Situation ist komplex, es gibt immer neue Entscheidungen, neue Erklärungen, der Kampf gegen das Corona-Virus scheint trotz aller Bemühungen kein Ende nehmen zu wollen. „Viele sind erschöpft von dem, was Corona uns abverlangt, auch psychisch“, sagt Andreas Laurien. Der Leiter der Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Erwachsene und seine Kollegen erleben es Tag für Tag. Für ihn ist diese Erschöpfung nachvollziehbar und unter den gegebenen Umständen tatsächlich „normal“, sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen. „Man muss akzeptieren, dass nach fast zwei Jahren die Kräfte aufgezehrt sind.“

Pandemie-Alltag löst bei Kindern Frust aus

Wie mit der unsicheren Situation zurechtkommen, mit den Regeln, den fehlenden Kontakten, der dauernd schwelenden Gefahr einer Ansteckung? Viele versuchen es mit dauerhaftem Optimismus, mit ewigen Durchhalteparolen, mit dem Versuch, die Katastrophe kleinzureden, weil schließlich jeder unter der Pandemie und den Beschränkungen leidet. Alles nicht so schlimm, das wird schon, die andern dürfen ja auch nicht raus. In gewisser Weise sei tatsächlich Optimismus gefragt, sagt Andreas Laurien. Doch dass damit zugleich oft der Frust, den Kinder und Jugendliche empfinden, klein geredet wird, hält er für „besorgniserregend“.

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Man müsse die Gefühle zulassen, den Frust, die Erschöpfung. „Wir müssen durch das Jammertal durch“, sagt der Leiter der Beratungsstelle. Auch das gehöre zu den Aufgaben der Eltern: Den Kindern zu zeigen, dass man eben nicht alles regeln könne, dass man verzweifelt und hilflos sein darf. „Für viele in unserer Hochleistungsgesellschaft ist es schwer auszuhalten, dass man weder mit Struktur noch mit Planung gut durch die Krise kommt.“ Es gebe eben Dinge und Situationen, auf die man kaum oder keinen Zugriff habe. „Da hilft Aktionismus nicht weiter.“

Laurien spricht von einer „Ertragenskompetenz“, die Eltern ihren Kindern vorleben müssten. Wie schwer dieses Ertragen fällt, macht ein Satz deutlich, den ein Mädchen zu den Beratern gesagt hat. „Die 14 Tage Quarantäne haben sich angefühlt, als würde ich nicht mehr existieren. Als wäre ich nicht mehr auf der Welt.“ Die Zeiten, die man zu Hause sein muss, ohne soziale Kontakte, ohne Schule, ohne Freunde, die bereiten dem Psychologen beim Blick auf die sich stark verbreitende Omikron-Variante die meisten Sorgen. „Die Quarantäne-Zeiten werden unser größtes Problem.“

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Wer mit dem Psychologen über seine Arbeit redet, dem schleicht sich das Wort, das er vorher erwähnt hat, während des Gesprächs immer wieder in die Gedanken: besorgniserregend. Weil Laurien von immer mehr jungen Erwachsenen berichtet, die wegen psychischer Probleme Hilfe suchen. Von vermehrten Ängsten, von mehr Suchtverhalten bei jungen Leuten, vom Kiffen, von Alkohol, von Essstörungen – wobei manche viel zu viel, andere viel zu wenig essen. „Es ist alles da. Und zwar in einem Ausmaß, das es vorher nicht gab.“ Immer mehr Kindern fehlt das Selbstwertgefühl, beobachten die Fachleute. Dieses Gefühl wird hauptsächlich über soziale Kontakte zurückgemeldet. Doch die Kontakte fehlen, die Rückmeldungen damit auch und die Jugendlichen kommen ins Zweifeln, werden unsicher.

Psychische Probleme bei Kindern und Jugendlichen nehmen stark zu

Bei einer Reihe von Kindern gibt es extreme soziale Entwicklungsverzögerungen, vor allem beim Übergang vom Kindergarten in die Schule, merkt das Beraterteam. „Sie erfüllen die Anforderungen nicht, die an Menschen dieses Alters normalerweise gestellt werden.“ Ein Satz, der schlucken lässt. Laurien beschreibt, was er damit meint: Die Kinder kommen nicht in einer größeren Gruppe zurecht. „Sie sind die Zuhause-Blase gewöhnt, sie waren ja lange nicht im Kindergarten.“ Was tun mit diesen „emotional auffälligen“ Mädchen und Buben? Laurien hält es für falsch, auf Biegen und Brechen zu versuchen, Kinder und Jugendliche mit Förderprogrammen, Nachhilfe und Schulungen ins „normale“ Anforderungsprofil zu zwingen.

„Man muss die Anforderungen runterschrauben“, sagt er. Wenn der Lernraum nicht da ist, können die Kinder nicht lernen. „Wenn Sie kein Wasser haben, kann ein Kind nicht schwimmen lernen. Und ohne das Element der Gruppe kann man kein Gruppenverhalten lernen.“ Schwierig ist es auch für Jugendliche, die schon früher nicht gern in die Schule gegangen sind. Homeschooling hat es ihnen ermöglicht, das zu umgehen, wovor sie Angst haben, was ihnen unangenehm ist: die Schule zu besuchen. „Ein klassischer Verstärker“ sei das Homeschooling für Schulverweigerer gewesen. „Es wird uns noch lange beschäftigen, wie wir sie wieder in die Schule bekommen.“

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Doppelt, teilweise dreimal so viele Anfragen – wie kommt die Beratungsstelle damit zurecht? Nicht jeder kann sofort drankommen. „Und eine Crash-Beratung gibt es auch nicht“, so Laurien. Schnelle Hilfe, aufs Tempo drücken – das ist nicht machbar. „Wir hoffen, dass wir die richtigen rauspicken. Diejenigen, die umfallen, wenn wir ihnen nicht schnell helfen.“ Die anderen müssen, wie es bei vielen Fachärzten, Therapeuten und Beratungsstellen schon immer der Fall war, Wartezeiten in Kauf nehmen. Auch über die Einrichtung von Gruppenberatungen hat Laurien schon nachgedacht. Umgesetzt wird das aber wahrscheinlich nicht. „Die Probleme sind zu individuell.“

Verschüttete Kräfte wecken

Die Psychologen und Sozialpädagogen lösen diese Probleme nicht für ihre Klienten. „Wir können die Erschöpften nicht wieder fit machen“, sagt Andreas Laurien. „Das müssen sie selbst schaffen.“ Hauptaufgabe der Beratungsstelle sei es, Kräfte und Ressourcen bei den Menschen zu wecken. Fähigkeiten, die verschüttet scheinen, wieder verfügbar zu machen. „Wer in der Krise steckt, der hat oft vergessen, wie viel er schon bewältigt hat.“

Laurien ist überzeugt, dass die Menschen auch die Kraft haben, die Corona-Krise zu überwinden, aber es wird Zeit kosten – und Verständnis. Dafür, dass manch einer nicht mehr kann, dass Kinder eben nicht immer die an sie gestellten Anforderungen erfüllen, dass mancher anders denkt. Auch wenn der Mensch aus Angst, Mürbheit und Erschöpfung dazu neige, Sündenböcke zu suchen, seien „Hexenjagden“ ein völlig falscher Weg. Wobei Laurien auch eines beobachtet hat: Die Tendenz, anderen die Schuld an der Situation zu geben, sei bei Erwachsenen viel größer als bei Kindern. „Die zeigen viel mehr Verständnis.“ Da können die „Großen“ noch viel von den „Kleinen“ lernen – gerade jetzt, in der Krise.

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