Warum nehmen so viele kirchliche Mitarbeiter das Angebot Ihrer Einrichtung an? Sind Sie besonders anfällig für psychische Probleme?
Es gibt sehr viele hoch motivierte Mitarbeiter in der Kirche. Menschen, die mit viel Idealismus ihre Arbeit beginnen. Sie achten nicht auf ihre eigene Gesundheit, merken nicht, dass auch die Nächstenliebe ihre Grenzen hat. Diese Menschen übernehmen sich und kommen an einem Punkt nicht mehr alleine weiter.
Was können Sie diesen Menschen vermitteln?
Im Neuen Testament heißt es: Liebe Deinen Nächsten wie dich selbst. Wir vermitteln das „wie dich selbst.“ Nur wenn ich mich selbst liebe und annehme, kann ich meine Arbeit so dosieren, dass ich sie zum Segen für mich und andere einbringe.
Das heißt: die kirchlichen Mitarbeiter lernen hier, auf sich selbst zu achten?
Ja. Es gibt Priester, die sich ständig zurücknehmen, sehr bescheiden leben mit der Folge, dass sie ihr Potenzial nicht nutzen. Wir vermitteln ihnen, dass Hingebung etwas wunderbares ist, aber erst, nachdem ein Mensch zu sich selbst gefunden hat. Ein Verzicht ist ja nur dann ein Genuss, wenn ich weiß, was der Genuss bedeutet.
Bezogen auf die Sexualität heißt das, dass Priester diesen Genuss kennengelernt haben sollten?
Nicht unbedingt. Aber die Entscheidung für das Zölibat sollte stimmig sein. Er entbindet die Priester nicht davon, beziehungsfähig zu werden. Es gibt Priester, die nicht beziehungsfähig sind, auch nicht bereit sind, sich den Mühen zu stellen, die damit einhergehen, die ihre Beziehungsunfähigkeit mit dem Zölibat quasi selbst heilig sprechen. Tatsächlich laufen sie aber vor der Wirklichkeit davon.
Und dieser Wirklichkeit stellen sie sich im Recollectio-Haus?
Wir bieten den Rahmen dafür.
Was ist mit den Priestern, die sich dieser Wirklichkeit nicht stellen?
Die können ihren Beruf nur mit halbem Herzen ausüben. Im Leben gibt es für jeden Menschen wichtige Entwicklungsphasen. Die Pubertät und Entdeckung der Sexualität gehören dazu. Wer diese Phasen abkürzt und sich beispielsweise an menschlichen Beziehungen vorbei direkt in die Beziehung zu Gott begibt, verfügt über keine tragfähigen Beziehungen, was aber Voraussetzung dafür ist, um auf eine gesunde Weise zölibatär leben zu können. Wer fähig ist zu intensiven Gefühlen, zum Erleben und Genießen, und sich dann für Gott entscheidet, der kann auch mit vollem Herzen Priester sein. An den menschlichen Bedürfnissen vorbei lässt sich dieser Beruf nicht ausüben.
Wird dieser Gedanke in der Priesterausbildung beherzigt?
Es gibt eine Reihe von Priestern, die sich dieser Herausforderung gestellt haben. Augenblicklich gibt es aber kaum Männer, die diesen Beruf ergreifen. Wenn doch, gibt es eine gewisse Tendenz bei den angehenden Priestern, die sich in der Liebe zu äußerem Status und zur Liturgie zeigt. Diese neuen Priester haben natürlich Probleme mit Papst Franziskus.
Dem haben Sie im letzten Jahr einen Brief geschrieben, in dem Sie um die Aufhebung des Pflichtzölibats gebeten haben. Haben Sie noch Hoffnung, dass sich dieser Wunsch erfüllt?
Ich bin zutiefst überzeugt davon, dass sich etwas bewegt. Ich werde es noch erleben, dass eine Lockerung stattfinden wird.
Woher nehmen Sie diese Sicherheit?
Es gibt kaum jemanden, der so viele Gespräche über das Zölibat geführt hat wie ich. Mit Priestern und Bischöfen. In Deutschland und in Rom. Es sind tausende Informationen, die sich gebündelt haben. Meine Intuition sagt mir, dass es gar nicht anders sein kann.
Weil der Wunsch innerhalb der Kirche so mächtig wird?
Er ist schon mächtig, auch in der Bevölkerung. Die Bereitschaft einer großen Anzahl von Bischöfen ist jetzt schon da, auch wenn das nicht nach außen kommuniziert wird. Auch der Papst scheint mir bereit dafür.
Wie kommen Sie darauf?
Das neueste Schreiben des Papstes Amoris Laetitia birgt einen Satz, der mir Hoffnung gibt: Die Priester wissen recht wenig, was in den Familien abläuft, heißt es dort sinngemäß. Und: Wir könnten aus der Tradition der östlichen Kirchen lernen. Dort sind die Priester verheiratet.
Sie sind in den letzten 25 Jahren mit vielen Themen und Sorgen konfrontiert worden. Wie sind Sie selber damit zurecht gekommen?
Ich hatte tatsächlich Phasen, in denen es schwer war, auch wenn ich mir nie etwas vorgemacht habe, was die menschlichen Untiefen angeht. Dennoch: In diesem Ausmaß hätte ich sie bei den kirchlichen Mitarbeitern doch nicht erwartet.
Von welchen Untiefen sprechen Sie?
Ich nenne nur mal zwei Themenbereiche: Macht und Sexualität. Es gibt Führungskräfte, die innerhalb der Kirche gegen alle Gebote der Nächstenliebe verstoßen und nach außen ein ganz anderes Bild abgeben. Und die Sexualität ist nun mal eine Lebenskraft des Menschen, die in vielen Fällen nicht verantwortungsvoll angeschaut wird. Die im Dunkelraum lebt und unerlöst vor sich hin vegetiert.
Klingt nach viel Leid.
Wo Licht ist, ist auch Schatten. Und in der Kirche ist viel Licht.
Warum haben Sie sich jetzt für den Ruhestand entschieden?
Ich bin 65 und habe nach 25 Jahren gemerkt, dass die Arbeit im Recollectio-Haus an mir zehrt. Es ist jetzt genug. Ich werde Bücher schreiben und Vorträge halten und mich mehr in meiner Familie einbringen. Die Verantwortung für das Haus kann ich gut abgeben. Auch wenn ein Stückchen Wehmut dabei ist. Ich habe diese Arbeit gerne getan.
Neuer Leiter: Dr. Ruthard Ott wird die Nachfolge von Dr. Müller als Leiter des Hauses antreten. Neue Mitarbeiterinnen sind Dr. Corinna Paeth und Dr. Albert Summ.