Als die Angst in Kitzingen allgegenwärtig war
Autor: Daniela Röllinger
Kitzingen, Donnerstag, 11. März 2021
Er hat sich keine einzige Zeile aufgeschrieben. Vergessen hat Sepp Denninger trotzdem nichts. „Das ist noch alles da drin“, sagt der 86-jährige Kitzinger und tippt mit dem Zeigefinger leicht an seinen Kopf. Die Erinnerung an die Zerstörung Kitzingens durch den Bombenangriff hat sich in sein Gedächtnis eingebrannt, an Leid und Elend, Tote und Verletzte, an die ersten Tage danach ohne Wasser und Strom, an gegenseitige Unterstützung– und an die ständige Angst vor einem weiteren Angriff.
Der 23. Februar 1945 ist der dunkelste Tag in der Geschichte der Stadt Kitzingen gewesen. In acht Angriffswellen wurden zwischen 11.34 und 12.45 Uhr über 2100 Sprengbomben über Kitzingen abgeworfen. 800 Wohnhäuser, Fabriken, öffentliche Einrichtungen wurden zerstört, das Deusterschloss und die Evangelische Stadtkirche schwer beschädigt. Über 700 Menschen starben. An die schrecklichen Ereignisse wird alljährlich bei Gedenkveranstaltungen erinnert, darüber gibt es Aufzeichnungen, davon erzählen Zeitzeugen in Schulen und bei Vorträgen. Über die ersten Tage und Wochen danach gibt es dagegen relativ wenige Berichte. Erst der Einzug der Amerikaner Anfang April ist wieder ausführlicher dokumentiert.
Sepp Denninger war zehn Jahre, als die Bomben fielen
Der Kitzinger Sepp Denninger hat den Angriff als Zehnjähriger miterlebt. „Ich erzähl, wenn ich gefragt werde“, sagt er. Zum Beispiel aktuell in einem Video auf der Homepage der Stadt Kitzingen. Oder als Akteur in der Häckerchronik. Da steht er seit Jahren in der Angriffs-Szene auf der Bühne, neben Steinen, die an zerstörte Häuser erinnern, einen Teddy in der Hand, verzweifelt weinend um Verstorbene. Denningers Mittel, die Erinnerung und Warnung zugleich weiterzugeben, ist die Sprache, wohingegen der gleichaltrige Sickershäuser Friedrich Kratsch die Schrift gewählt hat. Auf unzähligen Seiten hat er die Besonderheiten der Stadt- und Ortsteilgeschichte festgehalten – und auch seine Erinnerungen an den Angriff und die Zeit danach. Beiden Männern ist wichtig, dass das Geschehen nicht vergessen wird.
Zu fünft haben die Denningers zur Kriegszeit im Anwesen in der Kapuzinerklosterbrückenstraße gewohnt, die Oma, der Vater, die Mutter, der zehnjährige Josef und ein „Pflichtjahrmädchen“ aus der weitläufigen Verwandtschaft. „Als der Abend des Angriffstags gekommen ist, waren wir zwölf“, erzählt Sepp Denninger. Die Familie hat die Nachbarn aufgenommen, deren Häuser zerstört waren, während das der Denningers zwar kaputte Scheiben, Risse und Löcher im Dach hatte, aber alles Dinge, die repariert werden konnten. „Wir haben die Löcher erst mit Blechen zugedeckt und Töpfe unter die undichten Stellen gestellt, um das Wasser aufzufangen“, erzählt Denninger. Später hat der Vater Dachlatten und Ziegel mit dem kleinen Vieh-Wagen herbeigeschafft. Es sei offiziell erlaubt worden, von den total zerstörten Häusern Material zu holen, um die noch bewohnbaren Gebäude zu reparieren. „Jeder hat aussortiert, was noch zu gebrauchen war.“
Das Dach über dem Kopf war wichtig, noch wichtiger aber war die Versorgung mit Lebensmitteln. Die Wasserleitungen waren, ebenso wie Strom- und Gasversorgung, beim Luftangriff in weiten Bereichen der Stadt zerstört worden. „Es gibt nichts Schlimmeres, als wenn man kein Wasser hat“, sagt Friedrich Kratsch noch heute. Er wohnte damals mit seiner Familie in der Mansarde der Gaststätte Mühlberg in der Wörthstraße. „In den ersten Tagen haben wir uns mit dem Handwagen, einer Waschwanne und Eimern Wasser vom Main geholt“, erzählt der 86-Jährige, der seit langem in Sickershausen lebt. „Das Wasser musste erst abgekocht werden“, erinnert er sich. Einige Tage später konnte die Familie dann Trinkwasser aus einem Brunnen in der Glauberstraße beziehen.
Die Licht-, Kraft- und Wasserwerke versuchten, die Leitungen so schnell wie möglich zu reparieren, so dass beispielsweise die Wörthstraße nach etwa zehn Tagen wieder mit Wasser und auch mit Strom versorgt werden konnte. Die Wohnung der Familie Kratsch hatte zuvor eine Gasbeleuchtung, bekam so aber dank des Einverständnisses des Hausbesitzers eine elektrische Lampe in der Küche. „So hatten wir unsere erste elektrische Beleuchtung.“ Die Denningers dagegen waren noch länger auf eine alternative Versorgung angewiesen. Auch sie hatten sich und ihr Vieh zunächst mit Mainwasser versorgt. „Nach acht bis zehn Tagen fuhr dann ein Pferdefuhrwerk mit Wasserfass quer durch die Stadt, um den Leuten Wasser zu bringen, die noch keines hatten“, erzählt Sepp Denninger. Auch seine Familie bekam dieses Wasser, allerdings durfte es nicht für die Tiere verwendet werden. Dank der Landwirtschaft hatte die Familie zwar Kartoffeln und Milch, „aber das reichte kaum für uns“, weiß Denninger noch – und es waren ja mehr Köpfe als vor dem Angriff zu versorgen. „Aber jeder war dankbar für das Wenige, was er bekam.“ Wer keine Tiere hatte, musste anderweitig schauen, wo er Grundnahrungsmittel herbekam. „Ich weiß nicht, wie mein Vater es geschafft hat, dass wir etwas zu essen hatten“, erzählt Friedrich Kratsch. „Aber er hat es geschafft. Wir haben überlebt.“
Rettungstrupps in der Stadt
Die Schulen waren zerstört oder geschlossen, die Fabriken ebenfalls. So gingen viele zunächst nicht zu ihrer Arbeitsstelle, sondern packten beim Aufräumen mit an. Laut Friedrich Kratsch halfen nicht nur Bürger, Soldaten und Kriegsgefangene aus der Stadt, sondern es seien aus der ganzen Region Bergungs- und Rettungstrupps nach Kitzingen geschickt worden, um zu helfen.