Der wohltätige Bocksbeutel
Autor: Ralf Dieter
Kitzingen, Donnerstag, 15. Dezember 2016
Der Verein Freudentrauben sammelt seit sieben Jahren Geld für bedürftige Menschen
Es lohnt sich, um jeden einzelnen Menschen zu kämpfen. Eine Erfahrung, die Gunda Fleischhauer und ihre Mitstreiter vom Erich Kästner Kinderdorf über die Jahrzehnte gemacht haben. Auch wenn der Kampf nicht immer leicht ist. Zeit, Energie und Geld sind immer wieder neu gefordert. Spenden wie die der Winzergemeinschaft Franken und Edeka Nordbayern sind deshalb stets willkommen.
46 Plätze gibt es im Erich Kästner Kinderdorf. In sechs Häusern in den Landkreisen Schweinfurt und Kitzingen werden stark traumatisierte Kinder und Jugendliche betreut. Das Besondere: Das Projekt ist auf Dauer angelegt, die Kinder werden in bestehende Familien integriert. „Romantisch ist das nicht“, betont Daniela Huhn, die seit mehr als 20 Jahren zum Team gehört. „Man muss mit Rückschlägen umgehen können, manchmal auch mit den Aggressionen der Kinder.“ Ein Kind auf den Schoß nehmen, um ihm eine Gute-Nacht-Geschichte vorzulesen? Was in den meisten Familien eine wohltuende Normalität ist, kann bei den Großfamilien vom Erich Kästner Dorf zu schwierigen Ausnahmesituationen führen – zu Ablehnung, Angst und Wutausbrüchen. Erinnerungen werden bei den Kindern wach, schlimme Bilder wieder lebendig. Kein Wunder.
Die Kinder und Jugendlichen, die im Erich Kästner Dorf betreut werden, haben in der Regel eine lange Leidenszeit hinter sich. Gewalt, Missbrauch, ständige Unsicherheit. Feste Beziehungen und feste Strukturen sind für die Schützlinge von Gunda Fleischhauer und ihrem Team Fremdwörter. Das Ziel des Gesetzgebers lautet zunächst immer: Rückführung in die Familie. „Das ist grundsätzlich richtig, aber nicht immer möglich“, gibt Huhn zu bedenken. Mehr noch: In manchen Fällen ist es kontraproduktiv. „Bis die Kinder endlich zu uns kommen, haben sie häufig schon sehr viel durchlitten.“
Deshalb hinken viele Kinder und Jugendliche, die ins Erich Kästner Kinderdorf gebracht werden, einer altersgerechten Entwicklung hinterher. Dort bekommen sie endlich die Zeit und Fürsorge, die sie brauchen. Die meisten schaffen es auf die Regelschulen im Umkreis, andere werden heimintern, im so genannten „Schulchen“ unterrichtet. Derzeit sind das zehn Kinder. Drei werden im relativ neuen Programm „schulchenPlus“ betreut. „Dort begleiten wir Jugendliche mit Traumafolgestörungen, die aufgrund ihrer Belastungen an einer Regelausbildung zu scheitern drohen oder bereits gescheitert sind“, erklärt Heilerziehungspfleger Peter Fleischhauer. Diese jungen Menschen bedürfen innerhalb des Systems noch einmal einer ganz individuellen Betreuung. Dank der Spendenbereitschaft von Edeka Nordbayern und der Winzergemeinschaft Franken, die vor sieben Jahren den Verein Freudentrauben gegründet hat, haben sie jetzt eine bessere Chance, im (Berufs)Leben Fuß zu fassen.
Die Ressourcen und Probleme jedes Einzelnen erkennen, gemeinsam eine Antwort finden, wie er sein Leben irgendwann selbstständig führen kann und den Weg dahin bereiten. So sieht die Arbeit von Peter Fleischhauer aus. Sie ist oft von Erfolg gekrönt, wie bei dem Jungen mit Tourette-Syndrom, der dank seines großen Willens eine Schulausbildung geschafft hat. Doch nebenher auch noch einen Ausbildungsplatz zu organisieren, das war ihm einfach zu viel. „Er musste ohne Druck suchen können, er benötigte einfach mehr Zeit“, erinnert sich sein Betreuer. Zeit, die das Jugendamt in der Regel nicht finanziert. Dank „schulchenPlus“ hat der Junge die nötige Zeit bekommen, mittlerweile hat er seine Ausbildung zum Metallbauer in der Tasche. „Und er macht sich sehr gut“, freut sich Peter Fleischhauer.
Ein anderer seiner Schützlinge macht seine Ausbildung in einem Kfz-Betrieb. Mehrere Wochen Praktika haben ihn und die Besitzer der Werkstatt davon überzeugt, dass es trotz seiner Beeinträchtigung klappen kann. Dennoch gibt es ein Problem: Sein Gehalt wird komplett eingezogen. „Er hätte wenigstens gerne einen symbolischen Betrag“, erklärt Peter Fleischhauer. „Für seine Motivation wäre das hilfreich.“
Das Ausbildungsgehalt der Jugendlichen im Erich Kästner Dorf wird mit den Heimkosten verrechnet. Normalerweise bleiben den Jugendlichen 25 Prozent ihres Gehaltes übrig. Im vorliegenden Fall ist die Agentur für Arbeit wegen einer körperlichen Behinderung zusätzlich involviert. Die Maßnahme wird teurer, der so genannte Selbstbehalt komplett gestrichen. Peter Fleischhauer bedauert, dass damit auch Anerkennung und Wertschätzung auf der Strecke bleiben. „Unsere Jugendlichen werden noch einmal bestraft.“