Druckartikel: Bloß keine Angst vor der Schule

Bloß keine Angst vor der Schule


Autor: Ralf Dieter

Kitzingen, Donnerstag, 20. Oktober 2016

Er setzt sich seit 25 Jahren für eine andere Form von Schule ein. Und er hat klare Vorstellungen. Mehr Gerechtigkeit und Chancengleichheit wünscht sich Rudolf Brandenstein. Und mehr Demokratie. Alle Kinder würden da- von profitieren, ist sich der Fortbildungsbeauftragte der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft in Unterfranken (GEW) sicher. Und die Lehrer sowieso. Denn: Wo weniger Angst herrscht, da lässt es sich besser unterrichten.
Rudolf Brandenstein ist Fortbildungsbeauftragter der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft in Unterfranken und unterrichtete bis zu seiner Pensionierung als Volksschullehrer in Ochsenfurt und Sommerhausen. Seine Erfahrung: Geben Lehrer Macht ab, erhalten sie von den Schülern Disziplin.


Frage: Was passt Ihnen am bayerischen Schulsystem nicht?

Rudolf Brandenstein: Es basiert viel zu sehr auf Angst. Das liegt an den Noten und dem ständigen Vergleich untereinander. Am schlimmsten ist die Selektion nach der vierten Klasse.

Warum?

Brandenstein: Weil es die Schüler trennt in diejenigen, die vermeintlich erfolgreich sind, und diejenigen, die ständig das Gefühl haben, nicht gut genug zu sein. Durch diese Selektion und die späteren Auf- und Abstiege sowie das Sitzenbleiben geht jede Menge Energie verloren, die viel effektiver eingesetzt werden könnte.

Das heißt? Sie plädieren für ein durchgängiges Schulsystem?

Brandenstein: Zumindest die ersten zehn Jahre sollten die Kinder in einer Schule für alle unterrichtet werden. Man sollte sie gemeinsam wachsen lassen. Ohne Notendruck und eventuell sogar in jahrgangsübergreifenden Lerngruppen. Danach kann man entscheiden, welchen Weg jeder Einzelne geht. So könnten wir diese elende soziale Ungerechtigkeit beenden. 1#googleAds#100x100

Wovon sprechen Sie?

Brandenstein: In Bayern ist es besonders ausgeprägt, dass Kinder aus bildungsfernen Haushalten kaum Chancen haben, sich nach oben zu arbeiten. Der Schulabschluss hängt in hohem Maße vom Bildungsstandard und dem Geldbeutel des Elternhauses ab. Und diese Schere geht immer weiter auseinander. Das können wir uns auf Dauer nicht leisten.

Demokratische Schulen sind eine Lösung?

Brandenstein: Mehr Demokratie in Schulen wäre zumindest ein Mosaikstein auf dem Weg zu einem besseren Schulsystem. Das lässt sich in staatlichen Schulen schon jetzt realisieren.

Wie?

Brandenstein: Indem man die Schüler ernst nimmt und mitbestimmen lässt. Ich habe zum Beispiel jede Schulwoche am Montag mit einem Klassenrat begonnen. Wir haben gemeinsam den Wochenplan erstellt und am Ende der Woche haben wir uns wieder zusammengesetzt und die Ergebnisse diskutiert. Unter der Woche haben die Schüler ihre Aufgaben selbstständig oder in Gruppenarbeit erledigt.

Und das hat geklappt? Die Schüler haben ihre Freiheiten nicht ausgenutzt?

Brandenstein: Im Gegenteil. Meine Erfahrung aus fast 40 Jahren als Volksschullehrer lautet: Wenn man etwas Macht an die Schüler abgibt, bekommt man ganz viel Disziplin zurück. Das oberste Ziel eines Lehrers sollte lauten: Respekt vor den Kindern haben. Dafür muss ich sie aber in das System einbinden.

Und die Schüler wollen aus diesem System nicht ausbrechen?

Brandenstein: Wenn die Regeln ge- meinsam erarbeitet werden, halten sich die meisten Schüler daran. Der Vorteil für mich als Lehrer: Ich habe viel mehr Freiraum, um mich mit einzelnen Schülern zu beschäftigen.

In Nürnberg laufen die Planungen für die erste demokratische Schule in Franken nach dem Vorbild der Sudbury-Schools. Ist das Ihre Vision der künftigen Schullandschaft?

Brandenstein: Nein, ich begrüße zwar solche Schulversuche, ich bin aber als Gewerkschafter ein Verfechter der staatlichen Schulen. Aber im Moment gleichen diese viel zu oft einem geschlossenen Zwangssystem. Der Unterricht müsste offener, die Schüler mehr einbezogen werden. Der oft willkürliche Lehrplan müsste an die Lebensrealität angepasst werden. In Berlin gibt es Schulen, die haben Fächer wie „Verantwortung“ oder „Herausforderung“ in ihren Fächerkanon aufgenommen.

Das heißt?

Brandenstein: Schüler machen dort im Rahmen dieser Fächer ein mehrwöchiges Praktikum zum Beispiel in Kindergärten, Kliniken oder Altenheimen oder müssen sich mit 150 Euro drei Wochen außerhalb der Stadt durchschlagen.

Klingt abenteuerlich.

Brandenstein: Ist es auch. Eine Gruppe hat eine Radtour durch Schweden gemacht, eine andere ist durch Frankreich gewandert.

Und das bringt mehr als drei Wochen Latein-Vokabeln pauken?

Brandenstein: Davon bin ich überzeugt. Das Ziel von Schule muss doch lauten, junge Menschen zu befähigen, ihr Leben selbstständig zu bewältigen, Entscheidungen zu treffen und Probleme zu lösen. Durch solche Erfahrungen bilden sie ihre Persönlichkeit.

Um bei der Abschlussprüfung zu scheitern?

Brandenstein: Im Gegenteil. Die Studien zeigen, dass die Lernbereitschaft nach solchen Erfahrungen exponentiell ansteigt. Die Ergebnisse in den Abschlussprüfungen waren bei diesen Schülern jedenfalls nicht schlechter als an herkömmlichen Schulen.

Das heißt: Es ist Zeit für eine große Reform?

Brandenstein: Lehrer können das Wort Reform nach den Erfahrungen der letzten Jahre nicht mehr hören. Wir müssen versuchen, die Chancengleichheit in einer gut finanzierten staatlichen Schule zu erhöhen und die Schüler durch Methoden wie selbstständiges Lernen oder Befreiung vom Notendruck zu motivieren. Denn eines ist doch klar: Kinder sind von Natur aus lernbegierig. Diese Lernbegierde geht leider viel zu oft verloren.

Ist es realistisch, dass sich das bayerische Schulsystem in diese Richtung entwickeln wird?

Brandenstein: Kleine Änderungen hin zu einer demokratischeren Schule könnten wir ohne Kosten und ohne große Schwierigkeiten schon jetzt durchsetzen. Große Änderungen sind in der politischen Landschaft in Bayern schwierig. Wenn Sie mich nach einer echten Reform fragen, dann würde ich alle Schulen schließen und „Eine Schule für alle“ bis Klasse 10 öffnen.

Foto: Ralf Dieter

Demokratische Schulen

Die bekanntesten „Demokratischen Schulen“ sind die vom schottischen Pädagogen A.S. Neill 1921 in England gegründete Summerhill-Schule und die seit den 60er Jahren in den USA entstandenen Sudbury Schulen. Sogenannte demokratische Schulen zeichnen sich aus durch selbstbestimmtes Lernen (kein Lehrplan), basisdemokratische Regelung des Schullebens, freiwilligen Unterrichtsbesuch, keine Leistungsbewertung. Weitere Stichpunkte: Schulversammlung, Freiheit von Zeitdruck, Lernen durch Lehren. Alle demokratischen Schulen orientieren sich am Respekt vor den Kindern.

In Deutschland gibt es vier am Sud bury-Konzept orientierte Schulen. Die Sudbury Schule Ammersee ist zur Zeit geschlossen, weil die Regierung von Oberbayern ihr den Unterrichtsbetrieb untersagt hat. Es läuft eine Klage vor dem Verwaltungsgericht. Außerdem haben sich in einigen Städten Vereine gegründet mit dem Ziel demokratische Schulen zu gründen. (z.B. in Nürnberg).