So deckte Redakteur Ralf Kestel den Pflege-Skandal in Gleusdorf auf
Autor: Sebastian Martin
Gleusdorf, Freitag, 23. Dezember 2016
Ralf Kestel, FT-Redakteur in Ebern, hat den Eklat um die Gleusdorfer Seniorenresidenz aufgedeckt. Der Journalist schildert, wie es zu der Enthüllung kam.
Was FT-Redakteur Ralf Kestel in den vergangenen Wochen geglückt ist, nennt man in der Medienwelt gemeinhin einen "Scoop" - eine exklusive Enthüllung, die auch überregionale Medien zur Berichterstattung veranlasste. Kestel berichtete seit Herbst und im Folgenden immer wieder über das Pflegeschloss in Gleusdorf, blickte hinter die hohen Mauern und brachte einen Skandal ans Licht: Mehreren mysteriösen Todesfällen geht die Staatsanwaltschaft in Bamberg derzeit nach. Die Geschäftsleiterin sitzt in Untersuchungshaft. Kestel bleibt neben dem Tagesgeschäft weiter an dem Fall dran.
Sie haben den Skandal um die Seniorenresidenz Schloss Gleusdorf aufgedeckt. Wie kam die ganze Sache ins Rollen?
Ralf Kestel: Am Anfang stand eine Luftaufnahme eines befreundeten Drohnen-Piloten vom Schloss bei Hochwasser. Die nahm ich zum Anlass für einen Bericht über die Dachsanierung an diesem Denkmal. Nach einigem Zaudern willigte der Heimleiter ein. Es kam zum Ortstermin und Gespräch. Als der Bericht erschienen war, erreichte mich der Anruf eines erbosten Mannes, dass es um dieses Heim ganz schlecht bestellt, die Pflege miserabel sei und er Anzeige gegen die Geschäftsleitung erstattet habe.
Das kann ja jeder behaupten...
Deshalb wollte ich das mit ihm am Telefon nicht besprechen. Ich vereinbarte mit ihm ein Treffen am 30. August, zu dem er zwei ehemalige Pflegerinnen, Fotos und Unterlagen brachte. Darunter mehrere schriftliche Aussagen weiterer Ex-Bediensteter. Ich gebe zu, was die Drei mir erzählten, wollte ich nicht glauben: Hygiene-Mängel, Sonden für künstliche Ernährung, die im Geschirrspüler gereinigt und wiederverwendet wurden, gefälschte Arbeitszettel und Pflege-Protokolle, Medikamentenmissbrauch, Einschüchterung des Personals, Heimbewohner, die als "Bestien" bezeichnet wurden...
Warum haben Sie ihm dann doch geglaubt?
Ich versicherte, dass ich mir die Aussagen in aller Ruhe durchlesen und mit diesen Leuten Kontakt aufnehmen könnte. Die weitere Recherche, die sich über mehrere Tage erstreckte, führte ab 5. September zu Nachfragen bei Behörden: beim Landratsamt, der Heimaufsicht, Staatsanwaltschaft, dem Hauptzollamt und Medizinischen Dienst. Da die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren einleitete, wandte ich mich schriftlich mit elf konkreten Fragen zu den Vorwürfen an die Heimleitung, die am 22. September antwortete. Durch den ersten Bericht kamen neue Missstände ans Tageslicht, so auch die ersten mysteriösen Todesfälle.
Zunächst einmal streiten die Heimverantwortlichen alles ab, sprechen von einem Racheakt ihrer Ex-Mitarbeiter und einer Rufmord-Kampagne. In vielen Behörden wurde mit Hinweis auf laufende Ermittlungen, Persönlichkeitsrechte und das Steuergeheimnis gemauert. Außerdem war der Sachbearbeiter der Kriminalpolizei länger erkrankt, was die Ermittlungen über Wochen verzögerte. So musste ich den Aussagen der Zeugen vertrauen, die mehrfach betonten, dies auch unter Eid aussagen zu wollen.
Später meldeten sich immer mehr ehemalige Mitarbeiter bei Ihnen?
Ja, nach der ersten Veröffentlichung kamen immer mehr auf mich zu, darunter auch frühere Mitarbeiter von weither, die sich Unterlagen aus dieser Zeit kopiert und aufgehoben hatten, die für mich keine Zweifel ließen, dass hier strafrechtliche Belange berührt sind und alte Menschen schlichtweg ausgebeutet werden. Diese Masse an Informanten fügte sich zusammen wie Mosaiksteinchen. Ich kam mir bei einigen Gesprächen vor wie ein Beichtvater, da mehrere Ex-Mitarbeiter froh waren, ihre Beobachtungen endlich loswerden zu können. Andererseits fühlte ich mich wie ein Rechtsanwalt, da manche nicht wussten, wie sie ihre Aussagen gegenüber der Polizei machen sollten. Ich habe alle Gesprächspartner gefragt, ob ich Sachverhalt und Kontaktdaten an die Kripo weitergeben kann. Außer einer Ausnahme wünschten dies alle.
Wie sehr haben Sie die Schilderungen der Betroffenen persönlich getroffen?
Eigentlich wenig. Da ich vorher keinen meiner Gesprächspartner persönlich kannte, nahm ich die Rolle des neutralen, aber kritischen Zuhörers ein. Im Verlauf der Wochen stieg der Adrenalinspiegel aber spürbar, als ständig neue Sachverhalte erzählt wurden, die für mich kaum vorstellbar waren.
Was war das zum Beispiel?
Mir wurde berichtet, dass eine Heimbewohnerin Essen aus dem Futternapf der Hauskatze aß. Die Leute haben einfach Hunger gehabt. Was mich aber bis in den Schlaf verfolgte und für schlaflose Nächte sorgte, war die ständige Abwägung, das Nachprüfen der Aussagen auf ihren Wahrheitsgehalt sowie die Suche nach weiteren Informationsquellen.
Was gab Ihnen Sicherheit bei der Recherche?
In der Sache bestärkt haben mich die Aktionen der Ermittler, wie Hausdurchsuchungen in zehn Objekten sowie die Exhumierung einer im Heim Verstorbenen. Maßnahmen, die nicht ohne Grund von einem Richter abgesegnet werden. Auch die Tatsache, dass der Sprecher einer Ministerin an einem Samstagnachmittag wegen weiterer Informationen bei mir nachfragte, zeigte, dass ich auf dem richtigen Weg war. Dabei ging es um Meldungen aus anderen Heimen der Region, wo ähnliche Zustände herrschen würden.
Gibt es auch Gegenwind für Sie?
Es gibt Zuspruch, aber auch kritische Stimmen. Einige wenige Anrufe mit Beschimpfungen waren dabei, einer rief mich sogar privat an. Im Internet gab es Bemerkungen wie "billiger Sensationsjournalist", aber auch Anerkennung fürs Dranbleiben am Thema. Einige Kommunalpolitiker fanden die Berichterstattung überzogen, was ich verstehe und für einen normalen Reflex halte, um "seine Region" vor Überschriften in der Bild-Zeitung zu schützen...
Wie geht es jetzt weiter?
Ich gehe davon aus, dass sich die Ermittlungen der Kriminalpolizei Schweinfurt und Staatsanwaltschaft Bamberg noch Monate hinziehen, da viele Vernehmungen zu führen und viele Akten und Beweismittel auszuwerten sind. Ich allein verfüge über ein paar hundert Aufzeichnungen. Aus meiner Sicht ist es wahrscheinlich, dass Anklage erhoben wird gegen die Haupttäter. Diese haben offenbar über Jahre hinweg mit krimineller Energie ein System entwickelt, um mit einem Minimalaufwand an Pflege maximale Erträge zu erwirtschaften. Ich denke, dass das Schloss als Pflegeheim unter anderer Leitung weitergeführt werden kann. Ich weiß, dass es schon Überlegungen eines Wohlfahrtsverbands gibt.