Am Sonntag erfolgte die erstmalige Verlegung sogenannter Stolpersteine in Kronach. Verlegt wurden 16 Gedenktafeln vor den Wohnhäusern ehemaliger Kronacher Familien jüdischen Glaubens.
Gunter Demnig kniet am Sonntagmittag auf dem Bürgersteig in der Friesener Straße 2. Versunken in gedanklicher Konzentration verlegt er sechs Steine. Sein wettergegerbtes Gesicht ist für die Zuschauer um ihn herum nicht zu sehen. Es wird verborgen von einem grauen Hut mit einer breiten Krempe. Die Arbeitsschritte mit Spachtel, Hammer und weiteren Werkzeugen gehen ihm schnell und routiniert von der Hand. Tausende Male hat er sie schon ausgeführt - und doch geht ihm seine Erinnerungsarbeit offensichtlich noch immer sehr nahe. "Jeder Stein ist ein Schicksal, jeder Stein ein Mensch", sagt er. Vielleicht daher auch der Hut, das Verdecken seines Gesichtes - sicherlich nicht nur Sonnenschutz ...
"Hier wohnte Max Tannenbaum Jahrgang 1879 deportiert 1942 Krasnystaw ermordet" - So lautet die eingeschlagene Inschrift des ersten der 16 an diesem Tage verlegten goldfarbenen - 10 x 10 x 10 cm großen - Betonquaders.
Gewidmet ist er Max Tannenbaum, der mit seiner Familie in der Friesener Straße 2 lebte. Er, seine Ehefrau Selma und die älteste Tochter Frieda überlebten die Schreckensherrschaft nicht.
Gunter Demnig lässt Menschen stolpern - im übertragenen Sinn. Über die von ihm verlegten Pflastersteine - mittlerweile über 63 000 in 21 Ländern Europas - stolpert man beim Laufen natürlich nicht. "Ein Hauptschüler sagte einmal: ,Wir stolpern nicht und fallen hin, aber wir stolpern mit dem Kopf und dem Herzen‘ - Das drückt genau das aus, was ich erreichen möchte. Man muss sich bücken, um die Inschrift zu lesen. Dadurch verbeugt man sich vor den Opfern", so der Künstler, der im Oktober 70 Jahre alt wird.
Schnell redet er, in kurzen Sätzen - wie jemand, der noch viel zu tun hat. "Wir werden es nicht schaffen, alle Opfer mit einem Stein zu ehren. Aber wir können klein anfangen" - es hört sich fast wie eine Entschuldigung an. Seit 1996 verlegt der gebürtige Berliner seine mit jeweils einer ein Millimeter dicken Messingschicht belegten Steine in den Gehweg vor dem letzten freiwilligen Wohnort von NS-Opfern. Die ersten Jahre geschah dies illegal, später mit behördlicher Genehmigung. "Richtig angefangen hat es im Jahr 2000", erzählt er. Seitdem ist er rastlos. Die meisten Steine hat er selbst gesetzt. Der Terminkalender ist voll. Die in Handarbeit angefertigten Gedenktafeln stellen mittlerweile Mitarbeiter her. Dass der Bundesverdienstkreuzträger in Kronach selbst die Steine verlegt, ist dem Umstand zu verdanken, dass er am Sonntag für seine Mission auf dem Weg nach Tschechien war.
Drei Morddrohungen in 20 Jahren
"Der Hintergrund ist kein Grund zur Freude, der Stein schon", sagt er über sein konzeptionelles Kunstwerk, größtes dezentrales Mahnmal der Welt. Er will damit das Gedenken aufrechterhalten - an die sechs Millionen ermordeten Juden, aber auch an die Millionen anderen Opfer des NS-Regimes: Homosexuelle, politisch Verfolgte, Zeugen Jehovas, Menschen mit Behinderung, Roma, Sinti, Wehrdienstverweigerer. "Hinter den Zahlen kann sich niemand etwas vorstellen", ist er sicher. Am meisten berühre es ihn, wenn Angehörige an den Verlegungen teilnehmen - so wie ein Mann, der von seinen Eltern nach England in Sicherheit gebracht wurde. "Er ist danach wieder nach England zurückgekehrt. Aber er sagte auch, dass er jetzt wieder nach Deutschland reisen könne. Dafür weiß man, warum man so etwas tut und warum es meine Stiftung gibt", erklärt Demnig, dessen Erinnerungsarbeit nicht jedem gefällt.
"Mit drei Morddrohungen in 20 Jahren kann ich leben", meint er lapidar. Was ihn offensichtlich mehr trifft, ist das - in seinen Augen - "unsägliche Argument", man würde nach ihrem Tod wieder auf den Opfern herumtrampeln. So bezeichnet es seine Kritikerin, Charlotte Knobloch, Präsidentin der israelischen Kultusgemeinde München und Oberbayern. Auf den Grabplatten in den Kirchen sei es ähnlich. Quellen belegten, je mehr darüber laufen, umso größer die Ehre für den Verstorbenen. Zunächst habe er aber tatsächlich an Wandtafeln gedacht. Da wären aber sicherlich 80 bis 90 Prozent der Hauseigentümer dagegen gewesen. Seine Auftraggeber sind Gemeinden, Angehörige, Vereine mit geschichtlichem Interesse - so wie der Aktionskreis Kronacher Synagoge.
Dessen Vorsitzende, Odette Eisenträger-Sarter, zeigte sich gerührt über die überwältigende Anzahl an Teilnehmern. Sie dankte den Spendern - private, Institutionen und Parteien, ohne die man die Steine nicht würde verlegen können. Dies gelte insbesondere auch für Christian Porzelt und dessen unermüdlicher Recherchearbeit. Ein großer Dank gebühre dem Bauhof und den Mitarbeitern für die Sonderschicht am Sonntag sowie der Stadtverwaltung mit Stefan Wicklein für das Absegnen.
Menschen wie du und ich
Die Stadt Kronach wurde vertreten durch 2. Bürgermeisterin Angela Hofmann. Diese freute sich auch über die Anwesenheit von Vertretern der Kirche - wie Dekanin Dorothea Richter, Regionaldekan Thomas Teuchgräber sowie Pastoralreferentin Birgitta Staufer-Neubauer. Der Stadtrat habe im Juni 2016 die Verlegung der Stolpersteine einstimmig beschlossen. "Die Menschen, die wir heute ehren, waren Menschen wie du und ich. Menschen, die sich nichts zuschulden kommen ließen. Kronach war ihre Heimat - unsere Nachbarn", zeigte sie sich fassungslos. Größten Respekt zollte sie dem Aktionskreis sowie Christian Porzelt, sich deren Geschichte angenommen zu haben.
Der Weg führte alle Teilnehmer nach der Friesener Straße in die Strauer Straße 2, in die Johann-Knoch-Gasse 8 vor AWK sowie in die Kulmbacher Straße 21 vor die Orthopädie Preuß. Während an den ersten drei Plätzen das Verlegen relativ leicht und schnell erfolgte, musste der Bauhof an der letzten Station mit der Motorsäge anrücken. In der Strauer Straße erinnerte Angela Degen-Madaus an den hier seine Praxis unterhaltenden Dr. Simon Bamberger, den Hausarzt ihrer Großeltern. Er sei ein ausgezeichneter Arzt gewesen, der seine Hausbesuche mit seinem Landauer gemacht habe. Bei den 16 Steinen handelt es sich um die ersten von 25 Gedenktafeln, für die alle bereits Sponsoren gefunden wurden.
Dem Künstler war die Anstrengung ins Gesicht geschrieben. Noch schnell einen Kaffee trinken, dann ging es weiter nach Tschechien - unermüdlich, rastlos, unbeugsam.