Strafen wären der einfache Weg

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Michael Richter betrachtet den Umgang mit AD(H)S-Kindern als normal. Das mache den Umgang letztlich auch einfacher. Foto: Michael Busch
Michael Richter betrachtet den Umgang mit AD(H)S-Kindern als normal. Das mache den Umgang letztlich auch einfacher. Foto: Michael Busch

Das Liebfrauenhaus in Herzogenaurach wird gerne unter Eltern weiterempfohlen, wenn es darum geht ADS- oder ADHS-Kinder vernünftig unterzubringen. Denn irgendetwas macht diese Schule anders als viele andere Schulen.

ADHS, ein Reizthema. Wir haben an dieser Stelle vor Kurzem darüber berichtet. Es gab viele Reaktionen auf den Artikel. Das Medikament Ritalin als probates Mittel, um den Kindern zu helfen oder Droge, die betroffene Kinder zu berechenbaren Robotern macht, waren zwei der Standpunkte, die diskutiert wurden. Es ging aber auch um gesellschaftliche Zwänge und den Druck durch die Gesellschaft, die Eltern, aber auch die Schulen.
Michael Richter ist seit zwölf Jahren der Rektor des Herzogenauracher Liebfrauenhauses, zuvor war er dort zwölf Jahre als Lehrer tätig. Er weiß Bescheid über ADS und ADHS. Er weiß, wie eine Schule damit umgehen kann und wie dort den Kindern, aber auch den Eltern geholfen werden kann.

Was war/ist die größere Herausforderung - der frühere Klassenkasper oder das heutige ADHS-Kind?
Michael Richter: Früher ist man mit einem Klassenkasper anders umgegangen.
Der war auch nicht unbedingt das typische ADHS-Kind. Da gab es auf die Finger und Ruhe war. Man ist mit allen Problemen wesentlich autoritärer und stringenter umgegangen. Die Strafen waren da, um Druck zu erzeugen.
Doch wir gehen heute anders mit den Problemen um - Gott sei Dank. Strafen und Reglementierungen sind keine nachhaltigen Lösungen. Heute appellieren wir, das ist ein anderer, ein wesentlich schwierigerer Umgang, weil ich darauf angewiesen bin, dass sich mein Gegenüber darauf einlässt.

Ist das denn erfolgreich?
Natürlich, denn es ist ja das Einzige, was wir heute tun. Wenn ich einem unruhigen Kind sage: "Setz Dich hin, halt die Klappe, sonst bestrafe ich Dich!", ist die Geschichte für den Erwachsenen gelaufen. Wenn ich appellativ herantrete und das Kind mitnehmen will, bin ich mehr gefordert, dafür ist aber der Erfolg nachhaltiger. Die Drohkulisse war der einfachere Weg, der heutige Weg ist der richtige Weg.

Wie gut wissen Sie und der Lehrkörper über AD(H)S-Kinder in der Klasse Bescheid? Werden diese Kinder "per Zufall" entdeckt?
Wir kennen die Kinder, wir haben eine sehr aufwendige Aufnahmeprozedur. Dort reden wir sehr offen mit den Eltern. Aber auch im Probeunterricht bemerken wir bereits, ob Kinder eher lebhaft, brav oder wie auch immer charakterlich ausgebildet sind. Wir haben nämlich den Anspruch heterogene Klassen bilden, also nicht nur Klassen aus "Engeln". Das ist aber noch keine Diagnose.
In der Mittelschule werden die Eltern direkt gefragt nach möglichen Diagnosen. Das ist auch nicht dramatisch, weil diese keine Aufnahmekriterium für uns hier am Liebfrauenhaus darstellen. Genauso wenig wie Legasthenie, Kinder, die auch bei uns oft aufgenommen werden wollen. Bei den AD(H)S-Kindern schätze ich, dass wir rund 25 Prozent der Kinder, die aufgenommen werden sollen, dieses Bild aufweisen. Es fällt dann aber vor allem im Schulalltag auch nicht so auf, weil es eine gewisse Normalität ist, sie sind einfach da.

Wie sieht es mit den Lehrern aus? Sind die nicht manchmal von den hyperaktiven Kindern gestört - oder von den "Träumern", die dem Unterricht nicht folgen?
Unsere Lehrer sind geschult, wobei man mit dem Begriff "Schulung" immer aufpassen muss, weil die Halbwertszeit eines Kollegiums recht klein ist. Aber wir bemühen uns, die Lehrkräfte auf einem guten Stand zu halten. Wir gehen zum Beispiel auch in andere Schulen, um Erfahrungen zu sammeln. So waren wir in der evangelischen Schule Berlin Zentrum, um das dortige, erfolgreiche Schulsystem zu erfahren - und um es eventuell bei uns umzusetzen.
Abgesehen davon, diskutieren wir nicht mehr über AD(H)S an sich, denn es ist akzeptiert, dass es diese Form gibt. Wir reden darüber, wie wir helfen können. Das geschieht zusammen mit den Lehrern, aber auch den Ärzten oder den betreuenden Kräften. Sicher sind nicht alle Lehrer Fachkräfte in diesem Bereich, aber eine Grundqualifizierung liegt vor, so dass Auffälligkeiten bemerkt werden können, aber auch, dass der Umgang damit im Sinne des Kindes erfolgt.

Wie bringt man die Beobachtungen an die Eltern?
Durch die richtige Reaktion. Es gilt zum Beispiel: Weist die Eltern auf das Verhalten hin, stellt keine Diagnose.

Bei AD(H)S heißt es immer wieder: Das verwächst sich mit der Pubertät! Ist dem so?
Grundsätzlich weiß ich nicht, ob es sich verwächst. Aber der Umgang normalisiert sich mit den Jahren. Der normalisiert sich auch bei den Lehrkräften, vieles wird zur Routine. Wir bemerken ja auch, ob ein Kind "nur" medikamentiert wird, oder ob es auch therapiert wird. Da ist es dann tatsächlich so, dass die Therapie - oder besser: Training für die Kinder - zu Veränderungen und den Verhaltensweisen führt.
Die Kinder selber bekommen aber auch mit, wie sie sich Nischen schaffen können, wie sie bestimmte Verhaltensmuster, die negativ auffallen, kompensieren können. Fakt ist: In der Regel wird es besser.

Nach dem Schulabschluss, welche Chancen haben AD(H)S-Kinder?
Alle! Denn es normalisiert sich eben der Umgang untereinander. Das ist bei allen Verhaltensschwierigkeiten, die bei uns auftreten. Es geht nicht immer um die Heilung, es geht eher um ein "kompatibel" machen. Das trifft Blinde, das trifft Autisten, das trifft alle, die irgendwo ein aus gesellschaftlicher Sicht gesehenes Defizit haben.

Wie macht sich der Unterschied zwischen ADS und ADHS in den Klassen bemerkbar?
Das ADS-Syndrom ist deutlich schwieriger zu erkennen. Abgesehen davon entstehen zunächst einmal keine "störenden" Auffälligkeiten. Das Kind ist einfach ruhiger. Es fällt im Grunde nicht auf, zumal sich der Lehrer in der Regel eben eher den auffälligeren Schülern widmen muss, die durch ihre Aktivitäten auffallen. "Ist doch schön, wenn der ruhig sitzt!"

Das Liebfrauenhaus hat einen guten Ruf in der Frage des Umgangs mit AD(H)S. Rennen Ihnen die Eltern nicht die Türen ein?
Es ist sicher überproportional, was Inklusion grundsätzlich schon angeht. Wir sind Sprengel frei, daher gibt es entsprechend schon mehr Anmeldungen. Es kommen sicher diejenigen, die sich hier erhoffen weiterzukommen, wenn es an anderen Schulen nicht geklappt hat.

Endstation Hoffnung?
In der Endstation Hoffnung steckt ja auch immer der Part Neuanfang. Die Chance etwas zu ändern. Wir wissen, dass das Kind etwas durchgemacht hat. Wir wollen hier bewusst daran arbeiten, dass das Kind nach einer gewissen Zeit nicht wieder in ein Loch fällt. Das liegt vielleicht auch daran, dass wir sehr offen, sehr ehrlich mit den Eltern reden. Da macht es keinen Sinn, falsche Hoffnungen durch falsche Versprechungen zu wecken. Nur gemeinsam kann man im Sinne des Kindes agieren.

Was machen Sie besser als andere Schulen?
Ich glaube, der Königsweg, um mit Inklusion, mit Andersartigkeit umzugehen ist: Ich brauche ein anderes Schulleben. Ich brauche eine andere Schule. Ich habe mir in Berlin die vorhin erwähnte Schule angeschaut. Die haben ein ganz anderes System. Dort arbeiten die Kinder zum Beispiel mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Das machen wir auch. Ungebundener Unterricht, bei denen wir den Kindern mehr Luft geben.
Ganz einfach erklärt: Warum muss ein Kind bei acht Mathepäckchen alle ausrechnen, wenn es die ersten beiden Päckchen und das letzte schwierigste Aufgabenfeld bewältigt? Dann kann das in der Mitte ruhig wegbleiben, und ich habe dennoch keine Defizite.
Zurück auf ihre Frage kommend: Wir bieten eine Schulform an, die von den Kindern akzeptiert wird. Wir nehmen sie mit. Denn erst dort werde ich den vielen Charakteren bei uns gerechter, eben auch den AD(H)S-Kindern.

Das Gespräch führte
Michael Busch