Zu welchen Erkenntnissen Professor Michael Gehlen in seinem Buch über die Europäische Union kommt, erfuhren Zuhörer in Neustadt.
Die Europäische Union (EU) vor dem Aus? Mancher Zeitgenosse sieht dies so und zeichnet für ein vereinigtes Europa ein düsteres Bild. Ganz anders beurteilt Professor Michael Gehlen die Situation. In seinem Buch "Europa - Ideen, Institutionen, Vereinigung und Zusammenhalt" kommt er treffend zu
dem Schluss, dass die EU nicht auseinanderbrechen wird. In seinem über 1300 Seiten umfassenden Werk arbeitet der promovierte Historiker die geschichtliche Entwicklung Europas akribisch auf, erklärt dem Leser, was die EU so einzigartig macht, und wagt auch Blicke in die Zukunft.
In der Neustadter Kultur.werk.stadt nahmen zahlreiche Besucher die Möglichkeit wahr, dem Autor auf die Lippen zu schauen, als dieser sei viel beachtetes Buch vorstellte. Dass Michael Gehlen den Weg nach Neustadt fand, kam nicht von ungefähr. Der 1962 in Innsbruck geborene Wissenschaftler verbrachte viele Jahre in der Puppenstadt. "Ich habe noch in einen Koffer gepasst, als ich mit meinen Eltern nach Neustadt gekommen bin", erklärte Gehlen. Bis zu seinem Abitur, das er im Jahr 1981 am Arnold-Gymnasium ablegte, blieb er seiner Heimat treu. Lernte vor allem Fränkisch, das er bis heute nicht verleugnen kann, und "verliebte" sich in die Neustadter Bratwürste, von denen er heute noch sagt: "Das sind die besten der Welt."
Wie eine Reise in die Vergangenheit
In Innsbruck studierte Michael Gehlen Germanistik und Geschichte und hat derzeit eine Professur für
deutsche Geschichte an der Universität Hildesheim inne. Der Besuch in Neustadt war für ihn auch eine Reise in die Vergangenheit. So philosophierte er unter anderem mit Frank Koschwitz über die gemeinsame Zeit beim FC Haarbrücken und dachte mit Wehmut daran, dass man auf den dortigen Teichen im Winter noch Eishockey spielen konnte. Besonders erfreut war Michael Gehlen, dass sein ehemaliger Geschichtslehrer Dietrich Hofmann an der Lesung teilnahm. "Ihm hab' ich vor allem zu verdanken, dass strukturiertes Aufarbeiten von Themengebieten im Studium kein Neuland für mich war", ließ Michael Gehlen wissen.
Da es unmöglich war, in der Lesung das gesamte Werk vorzustellen, drittelte der Autor seinen Vortrag. Zunächst ging er auf den Inhalt seines Buches ein, widmete sich der gesamten europäischen Erweiterung (den Begriff der Osterweiterung wollte er bewusst nicht verwenden) und erörterte dann die Frage, was für den Zusammenhalt in der EU spricht. Den gespannt lauschenden Zuhörern führte er unter anderem vor Augen, dass sich der Euro zu einer Weltwährung, einer Durchdringungswährung, entwickelt habe. "Imperien haben so früher Politik betrieben und ihre Macht ausgebaut", erläuterte Michael Gehlen. Die Stellung Deutschlands, das er als Motor der EU bezeichnete, beschrieb er kurz und treffend: "Alle brauchen Deutschland, Deutschland braucht alle anderen". Am Ende seines mit viel Applaus bedachten Vortrages stand der versierte Fachmann dem Auditorium für Fragen und eine offene Diskussion zur Verfügung.
Warum der Vortragende bewußt den Begriff "Osterweiterung der EU" nicht gebrauchte, hätte ich sehr gerne gewußt, sind doch gerade mit diesem Teil der EU - Erweiterung ganz bestimmte masive Probleme verbunden, die es so vorher noch nicht gab.
Was die Rolle des Euro anbelangt, so will ich dem Vortragenden zwar grundsätzlich zustimmen, allerdings kann in diesem Zusammenhang nicht zwingend von einem Erfolg gesprochen werden, der ein Auseinanderbrechen Europas verhindere insoweit nämlich nicht alle Staaten der EU den Euro eingeführt haben resp. ihn einführen wollen. Eine Währung, die gerade einmal von etwas mehr als 50% der Mitgliedsstaaten der EU eingeführt wurde ist allenfalls ein Achtungserfolg, aber bei weitem nicht mehr. Nicht überzeugt bin ich von der Position, Europa brauche Deutschland und Deutschland brauche vice versa Europa. Schon gut, aber das verengt die Diskussion zu sehr auf rein ökonomische Gegebenheiten und genau dieser Umstand ist es doch, der vielen Bürgern der EU ganz erhebliche Sorgen bereitet. Natürlich ist ein vereintes Europa ein Markt hoher Potentialität, aber es muß doch wohl entschieden mehr sein, nämlich auch ein Vermittler von gemeinsamen Werten und hier kann man doch ganz erhebliche Zweifel haben, ob dies geleistet wird und ob dies überhaupt geleistet werden soll. Wie kann etwa ernstlich von gemeinsamen Werten in der Asyl- und Migrationspolitik gesprochen werden, wenn hier zwischen den Staaten eine Kakophonie herrscht die ihresgleichen sucht und wo Probleme konsequent negiert, minimalisiert, verschleiert werden, anstatt konzise Antworten zu formulieren und die gewonnenen Ergebnisse auch durchzusetzen. Das scheint mir nämlich der ganz entscheidende Punkt zu sein, der ein Auseinanderbrechen keineswegs unwahrscheinlich macht: die Flucht in nationale Egoismen und das Bedienen nationaler Ressentiments anstatt mutigen gemeinsamen überzeugten Vorwärtschreitens und das Vorleben gemeinsamer Überzeugungen.
"Steht die Europäische Union vor dem Aus?"
Nein!
Also fragt man die auch nicht, werte Damen und Herren der MGO.