Lachs und Obadzda
Die stürmischen Tage des Novembers 1989. "Es war auf der einen Seite ein wunderbares Gefühl. So etwas gibt es nur einmal im Leben. Aber auf der anderen Seite hatte ich schon ein bisschen Angst, dass sich gerade mal alle in den Westen absetzten und nicht wieder kommen." Die meisten kamen wieder.
Am 19. November fuhr Gerd Braun mit seiner Familie zum ersten Mal nach Coburg, zu einer ehemaligen Schulkameradin des Vaters. "Mein Gott, wir wurden mit Lachs und Obadzda bewirtet und kannten weder das eine noch das andere."
Weil in Coburg die Begrüßungsgeldausgabestellen natürlich überlaufen waren, hatte damals der Coburger Bekannte vorgeschlagen, nach Ahorn ins Rathaus zu fahren. "Ich hatte ein paar Stadtwimpel dabei", erzählt Braun, "mich aber nicht als Bürgermeister geoutet. Als der dortige Hauptamtsleiter Martin Kollmann das aber spitz kriegte, führte er mich gleich gastfreundlich durchs Rathaus. Besonders imponiert hatte mir neben der Freundlichkeit auch die kleine Ratsstube im Keller." Vom ersten Westgeld wurde im Aldi in Creidlitz eingekauft - Gemüse, Obst, Süßigkeiten, ein ganzer Einkaufswagen für 47,46 D-Mark.
Ein paar Tage später kam dann in Eisfeld im Rathaus ein Brief vom Ahorner Bürgermeister Wolfgang Dultz an - mit einer Einladung nach Ahorn. Gerd Braun, Hans Hartwig und Hansi Popp machten sich mit einem alten B1000 auf den Weg. "Früh um 9 Uhr fuhren wir los, in der Überzeugung, den 11 Uhr-Termin natürlich zu schaffen. Gegen 13 Uhr trudelten wir in Ahorn ein." Die Verspätung der Gäste aus dem Osten wurde mit Freude und Freundlichkeit überspielt. "Schon die ersten Kontakte waren sehr herzlich und interessiert." Als sich am 24. Dezember um Mitternacht auch die Grenzen in die andere Richtung öffneten, also von West nach Ost, waren es schon die Ahorner, die zu den ersten Gästen zählten und vom Begrüßungskomitee in Eisfeld mit Bratwürsten und Bier bewirtet wurden.
Und als Gerd Braun dann bei der ersten Kommunalwahl nach der Wende im Mai 1990 wieder ins Amt kam, wurde die Partnerschaft der beiden Kommunen ganz eng.
Kartuschen unterm Ahorn
Wenn Gerd Braun von seinem ehemaligen Bürgermeisterkollegen und Freund Wolfgang Dultz redet, werden die Augen feucht. In diesem Jahr wäre Wolfgang 80 Jahre alt geworden. "Ich habe ihm viel zu verdanken", sagt Braun. "Wir waren zwar ein ungleiches Paar, der eine eher perfektionistisch, der andere vielleicht ein bisschen zu leger, aber wir haben uns menschlich verstanden und wurden schnell Freunde."
Vor allem Verwaltungshilfe leisteten die Ahorner, legten gar manches Mal ein Veto ein, um den Eisfeldern zu ersparen, über den Tisch gezogen zu werden. "Für uns war doch der neue Verwaltungsaufbau ein Buch mit sieben Siegeln. Die Ahorner haben uns immer geholfen, uns mit Rat und Tat zur Seite gestanden, ob beim Straßen- und Kanalausbau oder bei den Beitragszahlungen." Braun erinnert sich an viele Ratssitzungen, die er in Ahorn besucht hat. "Da wurde auch gestritten, aber hinterher bei einem Bierchen in der Ratsstube konnte man sich immer in die Augen sehen. Nach einer doch etwas feuchtfröhlichen Nacht habe ich auch mal im Rathaus übernachtet", verrät er mit einem Augenzwinkern. Und die Eisfelder lernten schnell die Schleichwege von Rathaus zu Rathaus kennen. Am 3. Oktober 1990 wurde die Freundschaftsurkunde zwischen Ahorn und Eisfeld feierlich unterzeichnet. Braun deutet in eine Richtung und sagt: "Hier gleich im Park am Schloss haben wir gemeinsam einen Ahornbaum gepflanzt. Unter dem Baum liegt eine Kartusche mit Zeitdokumenten. Der Baum, davon kann sich jeder überzeugen, gedeiht prächtig, wie die Partnerschaft es über all die Jahre auch getan hat."
In beiden Kommunen agieren bis zum heutigen Tag Freundschaftskomitees, die alljährlich die gegenseitigen Treffen vorbereiten. Gegenseitige Einladungen werden gern wahrgenommen. Und auch wenn Gerd Braun schon lange kein Bürgermeister mehr ist, lässt er sich Höhepunkte im gemeindlichen Leben von Ahorn nicht entgehen. Viele Freundschaften, damals geknüpft, halten noch immer und setzen sich in die nächste Generation fort. Über die Autobahn A 73 ist es heute ein Klacks, von Eisfeld nach Ahorn und umgekehrt zu fahren.
Wofür Wolfgang Dultz und Gerd Braun vor drei Jahrzehnten den Grundstein legten, das haben die nachgekommenen Bürgermeister gern und mit viel Engagement fortgesetzt. Heute sind es Sven Gregor und Martin Finzel, die der Partnerschaft noch immer Leben und Inhalt geben - und diese im Rahmen der Initiative Rodachtal längst auf ein neues Niveau gehoben haben.
Gerd Braun findet es "schade, dass viele junge Leute dieses Gefühl nicht nachvollziehen können", und er meint, dass dieses Stück deutscher Geschichte es doch weitaus mehr Wert sei, durch die Doku-Sender zu flimmern als die Zeiten des Nationalsozialismus. Seine Erlebnisse und Geschichten erzählt Gerd Braun gern und demnächst auch wieder Neunt- und Zehntklässlern am Grenzturmmuseum. "Das vergisst man nie, und das Glück, es erlebt zu haben."