Nur mal schnell die Welt retten - auch von Coburg aus

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Die Welt ist eine Kugel - und eine Herausforderung für alle, die sie vor ökologischem wie ökonomischem Unheil bewahren wollen.
Die Welt ist eine Kugel - und eine Herausforderung für alle, die sie vor ökologischem wie ökonomischem Unheil bewahren wollen.
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Dieses Dumping-Angebot war für uns Stein des Anstoßes.
Dieses Dumping-Angebot war für uns Stein des Anstoßes.
Oliver Schmidt

Unser Redakteur Oliver Schmidt hat mal einen etwas anderen Stadtbummel unternommen. Er freut sich über viele engagierte Menschen - aber er wundert sich über Winterjacken für 5,99 Euro. Und die Bratwurst spielt auch eine Rolle. Ein Essay.

Die Welt ist im Wandel. Der Steinweg in Coburg auch. Hier, in der Kneipenmeile, wird die Wohnbau- und Stadtentwicklungsgesellschaft in den kommenden Jahren viele alte Gebäude sanieren. Das mag recht aufwendig sein, ist aber "nachhaltig", um gleich mal eines dieser Wörter in den Raum zu werfen, die gerne von Menschen benutzt werden, die glauben, die Welt ein bisschen besser machen zu können. Auch von Coburg aus.

Im Steinweg 21 schlägt das Herz des Vereins "Transition Coburg". Das kleine Ladenlokal ist so etwas wie ein offener Bücherschrank - nur, dass hier keine Bücher kostenlos den Besitzer wechseln, sondern zum Beispiel Teller, Tassen und sonstige Haushaltshelfer. Außerdem wird hier fleißig allerhand gesammelt: Gebrauchte Briefmarken für Bethel, Kaffeetüten für Fechheim-Matamba, gebrauchte Stifte für den Bildungsverein Frankenberg, Weinkorken für die Aktion "Cork Collect". Doch hinter "Transition Coburg" steckt noch sehr viel mehr. "Wir gestalten aktiv einen nachhaltigen und lebenswerten Wandel in Coburg mit", heißt es auf der Internetseite. Und: "Uns motiviert die Lust an positiver Veränderung." So wolle man sich auch für Klimaschutz und einen verminderten Ressourcenverbrauch einsetzen, ein Lastenfahrrad anschaffen und teilen sowie "Foodsharing" betreiben, also vom Verfall bedrohte Lebensmittel nicht einfach wegwerfen. Ja, im Steinweg 21 hat man das Gefühl, dass die Welt sogar von Coburg aus ein kleines bisschen besser gemacht werden kann. Aber was sind schon Gefühle?

Vom Steinweg 21 schweift unser Blick nach Süden. Eben noch von einer gerechten Welt träumend springt uns ein schrilles Angebot ("Sale"!") ins Auge: Winterjacken für sage und schreibe nur 5,99 Euro. Keine Frage: Es gibt Menschen, die für solche Angebote dankbar sind. Dennoch sollte man auch die Frage stellen, unter welchen Arbeitsbedingungen solche Jacken wohl hergestellt worden sind. In vielen Fällen würden die laut Eckardt Buchholz-Schuster, Rechtswissenschaftler und Rechtsphilosoph an der Hochschule Coburg, gegen den Grundsatz der Menschenwürde und des Rechts auf körperliche Unversehrtheit verstoßen, also "menschenrechtswidrig" und damit auch "ungerecht" sein. Ungerecht sei es insoweit auch dann, wenn man einen erweiterten Gerechtigkeitsbegriff zugrunde lege, der nicht nur auf formaler Gleichheit beruht, sondern zugleich auch auf den Menschenrechten als normativem Maßstab basiert.

Der Konzern bezieht Stellung

Weniger philosophisch klingt die Erklärung, die wir aus der Konzernzentrale des Coburger 5,99-Euro-Winterjacken-Geschäfts erhalten. Die Kurzfassung lautet: Der niedrige Preis liegt doch nur an Corona! Die Langfassung klingt so: Aufgrund der "2G"-Regel hätten nahezu alle Einzelhändler in den vergangenen Monaten deutlich weniger Kundschaft gehabt. Deshalb sei noch immer viel Ware in den Lagern. Deshalb werde nun versucht, über "spezielle Rabattaktionen" die Lager zu räumen. Auch die besagten Winterjacken für 5,99 Euro seien Bestandteil einer solchen Aktion. Ohnehin gebe es in diesen Tagen speziell bei Winterware sehr große Rabatte von bis zu 80 Prozent, um die Bestände zu verkleinern.

So, und jetzt rechnen wir mal: Sollte die Winterjacke in den Genuss des Maximal-Rabatts von 80 Prozent gekommen sein, würde sie regulär 29,95 Euro kosten. Das liest sich in Bezug auf die möglichen Arbeitsbedingungen, unter denen die Jacke produziert wurde, schon etwas freundlicher. Aus der Konzernzentrale heißt es dazu sogar: "Wir arbeiten nur mit Produzenten und Lieferanten zusammen, die sich unserem ,Code of Conduct‘ verpflichten." Darin werde klar gestellt, dass alle Handelspartner für "faire Löhne, gute Arbeitsbedingungen und eine ressourcenschonende Produktion" garantieren. Trotzdem ist es immer wieder erstaunlich, dass speziell bei Textilien, die bereits eine halbe Weltreise hinter sich hat, solche Preise möglich sind. Die besagten Winterjacken haben das Licht der Welt übrigens in Asien erblickt, firmieren aber als "Eigenmarke" des deutschen Konzerns mit Sitz in Unna.

Was genau ist "fair"?

Doch jetzt mal eine andere Frage: Wann genau ist ein Preisen eigentlich "fair"? Die 5,99- beziehungsweise 29,95-Euro-Seite argumentiert: "Da bei unseren Eigenmarken keine Lizenzgebühren oder sonstige Fremdkosten anfallen, können wir unseren Kunden bestmögliche Qualität zu erschwinglichen Preisen garantieren." Klingt nachvollziehbar. Und ist eine solche Preiskalkulation deshalb vielleicht sogar fairer als wenn eine Modeboutique schicke Jacken für 350 Euro verkauft, um die eigene Gewinnspanne zu erhöhen? Andererseits: Hat nicht jeder das Recht, zu schauen, wo er bleibt? Niemand wird gezwungen, eine - vermeintlich - überteuerte Jacke zu kaufen. Aber vielleicht ist jemand gezwungen, eine Billigjacke zu kaufen?

Dieser Stadtbummel geht an die Substanz. Auf dem Marktplatz stärken wir uns mit einer Bratwurst. Die kostet seit Dezember 2,80 Euro. Die Bratwurstbrater mussten diese Preiserhöhung machen, weil zum Beispiel auch die Semmeln teurer geworden sind, der Senf, und die Energie sowieso. Damit also auch die Bratwurstbrater weiterhin wirtschaftlich arbeiten können, müssen sie diese gestiegenen Kosten an ihre Kunden weitergeben. Ärgerlich, aber nachvollziehbar. Was aber noch ärgerlicher ist: Ebenfalls im Dezember, noch lange vor dem Krieg in der Ukraine, haben auch viele Stromkonzerne ihre Preise erhöht. Ohne es jetzt ganz genau zu wissen: Vermutlich sind bei den Konzernchefs der Stromanbieter weit weniger persönliche Beschwerden gelandet als bei Coburgs Bratwurstbratern. "Ach, ihr seid ja schon wieder teurer geworden" - so etwas müssen sich die Menschen anhören, die stundenlang in der Bude stehen, schuften und arbeiten und noch dazu ausschließlich regionale Produkte verwenden. Da sind doch 2,80 Euro günstig. Selbst wenn es anderswo in der Stadt für zwei Bratwürste schon fast eine Winterjacke gibt.

Kann es hundertprozentige Gerechtigkeit geben?

Ist es aber wiederum "fair" und gerecht, den Preis einer Bratwurst mit dem für eine Winterjacke vergleichen? Professor Buchholz-Schuster warnt: "Ich weiß nicht, ob es angemessen und sachlich richtig ist, alle globalen und nationalen Phänomene, mit denen wir unter faktischen und gerechtigkeitsbezogenen Gesichtspunkten Probleme haben, reflexartig den Märkten und ihren Mechanismen gutzuschreiben." Und während wir noch von einer gerechten Welt träumen, weil wir doch eben erst bei Transition von so vielen schönen Ideen gehört haben, bringt uns der Professor auch kurz wieder auf den Boden der Tatsachen zurück: "Hundertprozentige Gerechtigkeit auf Erden ist aus rechtsphilosophischer Perspektive nicht unbedingt realistisch, weder auf Märkten, noch in Rechtsordnungen oder Gerichtssälen oder sonst wo."

Der Professor will die Hoffnung auf eine bessere Welt aber keinesfalls aufgeben. "Gerechtigkeit als gleichheits- und menschenrechtsbezogener Leit-Stern menschlichen Handelns wird trotz dieser faktischen und kognitiven Schwierigkeiten selbstverständlich nicht überflüssig, sondern bleibt zentral." Im Hinblick auf die Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen reicheren und ärmeren Ländern seien entsprechende Klärungen und Transformationen im Grunde auch "längst überfällig". Aber die Erzielung absoluter Gerechtigkeit sei wohl auf den unterschiedlichsten Ebenen leider eher eine Utopie...

Marie macht uns Hoffnung

Jetzt sind wir ernüchtert. Nein, die Bratwurst hat uns nicht auf den Magen geschlagen. Es sind die komplexen Zusammenhänge in einer komplizierten Welt, die uns zu schaffen machen. Da trifft es sich gut, dass wir keine 200 Meter vom Marktplatz entfernt Marie Ebert treffen. Sie ist nach wie vor auf eine bewundernswerte Weise motiviert, die Welt ein bisschen besser machen. In ihrem Geschäft verkauft sie nachhaltige Mode und Accessoires. Warum hat sie ausgerechnet diesen Ansatz gewählt? "Für mich ist es unfassbar wichtig, nach meinen Werten zu handeln und zu leben", sagt sie und nennt an erster Stelle den "Wert der Wertschätzung". Sie wolle durch ihr Handeln dazu beitragen, dass alle wertschätzender miteinander, aber auch mit der Umwelt und den vorhandenen Ressourcen umgehen. "Dazu ist es für mich unabdingbar, dass die Produkte, die ich anbiete, unter fairen Arbeitsbedingungen hergestellt werden." Wichtig: Ihre Meinung nach gebe es keine ökologische oder ökonomische Nachhaltigkeit, wenn nicht auch eine soziale Nachhaltigkeit gegeben ist. Also müssten sowohl faire Löhne gezahlt werden als auch die Arbeitsbedingungen passen. Marie Ebert weiß allerdings auch, dass es nicht immer leicht ist, auf die Entfernung abzuschätzen, unter welchen Bedingungen etwas produziert wird. Grundsätzlich seien Zertifizierungen zwar ein wichtiger Anhaltspunkt. "Allerdings ist das kein Schwarz-Weiß-Kriterium", gibt Marie Ebert zu bedenken, Denn gerade kleinere Marken hätten oft nur deshalb kein Nachhaltigkeitssiegel, weil mit einem Zertifizierungsverfahren oft auch hohe Kosten sowie organisatorischer Aufwand verbunden sind.

Apropos Kosten: Lässt sich mit nachhaltiger Ware überhaupt Gewinn machen? "Natürlich liegt bei sogenannter ,Eco-Fashion‘ eine andere Preisaufschlüsselung vor", sagt Marie Ebert und verweist auf Kriterien wie Lohn, Material oder auch Transport, die sich völlig anders darstellen würden als bei "Fast Fashion". Allerdings bedeute das nicht, wie Marie Ebert betont, dass der Markt oder der Handel nicht mehr wirtschaftlich seien. Das nämlich wäre kontraproduktiv, um die "Eco Fashion"-Branche voranzubringen. Und mit "Voranbringen" und "Wachstum" sei in diesem Zusammenhang kein irrationales Gewinnstreben gemeint. "Es geht darum nachhaltig und langfristig etwas zu verändern", sagt Marie Ebert.

Unsere Gesprächspartner

Prof. Eckardt Buchholz-Schuster ist seit 2003 an der Hochschule Coburg tätig. Zu seinen Lehr- und Forschungsgebieten zählen unter anderem Arbeits- und Sozialrecht, Werte und Normen sowie rechtsphilosophische und -theoretische Grundlagen.

Marie Ebert hat seit November 2020 in der Herrngasse in Coburg das Geschäft "Nachhall". Sie verkauft dort nachhaltige Mode und Accessoires. Egal, ob etwas in Deutschland oder Nepal hergestellt wurde, muss es unter fairen Bedingungen produziert sein.