Der Nordpol als "Medienprodukt"
Autor: Simone Bastian
Coburg, Freitag, 20. Mai 2016
Der Coburger Professor Christian Holtorf forschte in Gotha, wie unser Bild vom "ewigen Eis" entstand - und wie und warum es sich permanent ändert.
"Im 19. Jahrhundert war der Nordpol ein Kassenschlager in den Tageszeitungen und Illustrierten, vergleichbar etwa mit der Mondlandung im 20. Jahrhundert", sagt Christian Holtorf. Sechs Monate lang befasste sich der Professor der Hochschule Coburg im Gothaer Perthes-Forum mit historischen Karten der Arktis, also des Gebiets rund um den Nordpol. Eins seiner Ergebnisse: Dass das Packeis schmilzt, ist kein neuzeitliches Phänomen, sondern wurde schon vor über 100 Jahren beobachtet und auf Karten festgehalten.
"Auf zahlreichen Landkarten aus dem 19. Jahrhundert ist zu beobachten, dass sich die scheinbar unveränderliche Eisfläche zunehmend verringert", sagt Holtorf. "Neben die vereiste Arktis trat allmählich ein dynamischer Ozean mit Tiefseegräben und Untiefen, mit Winden und Strömungen, mit Eisbewegungen und offenen Wasserstraßen." Das liege in diesem Falle weniger an klimatischen Veränderungen als daran, dass die Erkenntnisse
Wer bestimmt das Bild?
Das war nicht immer so: Kartografen des Mittelalters zeichneten den Nordpol eisfrei - es wusste ja niemand genau, wie es dort aussah. Das, sagt Holtorf, machte es den Forschungsreisenden des späten 19. Jahrhunderts schwer, zu beweisen, dass sie den Nordpol tatsächlich erreicht hatten.
"Denn wie ließ sich das Erreichen eines geometrischen Punktes in einer endlosen Landschaft von ineinander verkeilten schwimmenden Eisschollen dokumentieren?"Der Nordpol als der nahezu letzte unerforschte Kontinent elektrisierte nicht nur Forscher, sondern auch das breite Publikum. Das, sagt der Professor, zeigen auch die Karten, die Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden. "Es gab Zeitungen wie den New York Herald, die eigene Polarexpeditionen ausrüsteten, um ihre Titelseiten mit exklusiven Berichten füllen zu können." Gleichzeitig wuchs das Interesse an kartografischen Darstellungen. Der Gothaer Perthes-Verlag war bekannt für seine Karten und Atlanten - aus ihm ging das heutige Perthes-Forum hervor.
Doch Karten geben nicht nur eine Darstellung der Landschaft oder der Meere. "Karten unterliegen den spezifischen Sichtweisen ihrer Autoren, den ökonomischen Interessen der Verlage, aber auch den technischen Möglichkeiten ihrer jeweiligen Zeit", gibt Holtorf zu bedenken. "Indem Linien gezogen und Farben verwendet, Texte eingefügt und Einzelheiten aufgenommen oder weggelassen werden, verändert sich die Aussage einer Karte." Problem im Alltag und in der Wissenschaft sei aber, dass bei Bildern und Karten selten hinterfragt werde, wer sie in welcher Absicht und mit welchen Mitteln anfertigen ließ, meint der Professor.
Neue weiße Flecke
Darauf verweist auch der in Coburg lebende Historiker Gert Melville, der im Rahmen einer von Holtorf organisierten Tagung einen Vortrag über die Veränderung der Kartografie vom Mittelalter zur Neuzeit halten wird.
"Das europäische Mittelalter hatte die Vorstellung von einem Erdkreis, der völlig von bekannten Dingen besetzt war. Entsprechend wurden die Weltkarten gezeichnet. Mit der Entdeckung Amerikas änderte sich dies schlagartig. Man erkannte, dass der größte Teil der Erde noch zu erforschen war. Nun zeichnete man Weltkarten mit offenen Konturen der Kontinente und setzte damit Symbole von Räumen, die man zu erobern und zu integrieren hatte."Das ausführliche Interview mit Professor Holtorf finden Sie hier.
Hintergrund
Perthes-Forum Das Perthes-Forum in Gotha ist eine der bedeutendsten Sammlungen historischer Landkarten in Europa.
Es wurde mehrere Jahre renoviert und im vergangenen Sommer neu eröffnet. Das Archiv umfasst mehr als 185 000 Originalkarten und 120 000 wertvolle Bibliotheksbände. Ursprung ist die "Sammlung Perthes", die aus dem 1875 gegründeten Verlag hervorging.Tagung Zum Abschluss seines Forschungsaufenthaltes in Gotha organisiert Professor Holtorf im Forschungszentrum Gotha vom 2. bis 3. Juni eine Tagung über "Kartographien zeitlicher Dynamik". Der in Coburg lebende Historiker Gert Melville wird in diesem Rahmen über die Verändungen kartographischer Vorstellungen vom Mittelalter zur Neuzeit sprechen (2. Juni, 18.30 Uhr).