Mit dem Roman-Marathon starteten die 13. Literaturtage. Ursula März, Matthias Nawrat und Abbas Khider brachten ihre Zuhörer mit Traurigem zum Lachen.
Der Schrecken steht hinter allem. Die Menschen müssen schauen, wie sie damit zurecht kommen. Geschichten sich auszudenken, zu erzählen, zu schreiben und zu lesen über das Erlebte und/oder das zu Fürchtende ist die wichtigste Methode des Menschen, den existenziellen Schrecken in Schach zu halten. Womit wir bei der Literatur wären, beim Lesen und Schreiben, beim kollektiven Lesen, bei "Coburg liest".
Zum 13. Mal starteten am Samstag die Coburger Literaturtage, mit dem ausverkauften Roman-Marathon in der Reithalle. Da ging es thematisch um drei verschiedene Sektoren des Schreckens, allen dreien wurde mit den Mitteln des Humors Schnippchen geschlagen. Es ging also durchaus fröhlich zu am Samstag in der Reithalle.
Zumal der begabte, beeindruckend wendige Henrik Letzer mit seinem Konzertakkordeon für angemessene musikalische Stimmung sorgte.
Wie die Journalistin Ursula März den Schrecken der Einsamkeit betrachtet, hat das Tageblatt schon in der letzten Freitags-Ausgabe erzählt. Ihre amüsante "Untersuchung der neuen Liebesmärkte" am Beispiel fünf konkreter "Dates", ihr Blick auf Dating-Portale im Internet, verstaubte Seitensprungagenturen und Single-Partys sorgte für so manches Schmunzeln. Lustig macht sich Ursula März nicht über all die Jungen und Alten auf ihrer Suche nach Liebe, auf ihrer Flucht vor dem unmenschlichen Alleinsein.
Lieblinsflüchtling
Dem Coburger Lieblingsflüchtling Abbas Khider aber bleibt oftmals nichts anderes, als sich lustig zu machen über die Grausamkeiten der Ereignisse, auch über die Ignoranz der Menschen, denen er seit seiner Flucht aus dem Iran
bis heute begegnet. Er kam 2000 nach Deutschland, blieb zwangsweise hier hängen. Sprachbegabt wie er ist, nutzte er die Tradition des Geschichtenerzählens seiner Herkunft zum Überleben. Vor sieben Jahren war er zum ersten Mal bei "Coburg liest", und dann noch mehrmals bei anderen Lesungen in der Stadt, damals eine staunenswerte Erscheinung.
Erst Recht ist er heute, nachdem das Flüchtlingsdrama weltweit diese Dimensionen angenommen hat, eine staunenswerte Erscheinung, die literarische Stimme der arabischen Flüchtlinge. Wir Europäer verstehen so gar nicht, was sich da abspielt und wissen bisher nicht recht umzugehen mit dem Schrecken der Millionen Fremden und unserem eigenen. Abbas Khider aber ist schon da. In seinem vierten Buch, "Ohrfeige", beschreibt er, was Flüchtlinge in Deutschland erleben, wie sie darum ringen, ihre Würde und Identität aufrecht zu erhalten.
Dass er mit so viel Humor, mit so viel Gewitztheit erzählt, Situationen zuspitzt, entlarvt, ist seine Waffe gegen die Verzweiflung. Und uns ist er ein tatsächlich vergnügliches Mittel, wenigstens ein bisschen wahrzunehmen, vor allem, wenn wir das Allgemeinmenschliche in all den Vorkommnissen erkennen.
Jedenfalls können wir Karims Wut nachvollziehen, die er vor seiner Abschiebung seiner gefesselten Sachbearbeiterin, Frau Schulz, entgegen schleudert. Auf arabisch, was aber wurscht ist, denn auch wenn er deutsch spricht, gleicht die Verständigung dem Funkspruch "Erdling an Marsianer".
Derlei Schreckensbewältigung, ob bei März oder Khider, ist alles in allem fraglos legitim.
Was Matthias Nawrat aber versucht hat, löst auch 70 Jahre nach Auschwitz nach wie vor den Schrecken aus: Darf man das?
Schrecklich, skurril, komisch
In seinem dritten Roman "Die vielen Tode unseres Opas Jurek" erzählt der 1979 in Opole geborene, mit zehn Jahren zusammen mit seinen Eltern nach Bamberg ausgewanderte Matthias Nawrat, was sein polnischer Großvater an schrecklichen, skurrilen, tragischen, komischen, aberwitzigen Dingen erlebt hat, wie er eher aus Versehen nach Ausschwitz kam, das zu dem Zeitpunkt gerade als bis heute unfasslicher Ort der industriellen Menschenvernichtung eingerichtet wurde, wie er zurück nach Warschau und in den Warschauer Aufstand geriet, als Zwangsarbeiter nach Berlin deportiert wurde, dann den nächsten Totalitarismus im stalinistischen System überlebte, indem er als "Warenhausdirektor" statt der verheißenen Delikatessen eine Ladung Husarenrüstungen unter die
hungernde Bevölkerung bringt.
Die Umkehr aller Werte
"Ich habe lange nach dem Tonfall gesucht, mit dem ich die vielen Geschichten erzählen könnte, die uns mein Großvater erzählt hat", berichtete Matthias Nawrat am Samstag in der Reithalle. In der dritten Generation begann das Unfassliche ins Nebulöse abzudriften. Doch im Unterbewussten wirkt der Schrecken verheerend weiter. "Wie kann ich über etwas schreiben, das ich selbst nicht gespürt habe. Ich wollte nichts vorgeben." Also kam er dazu, die Ereignisse in der Erzählung zu erzählen, was ihm eine vom Heute in die Vergangenheit und zurück reichende Vielschichtigkeit und Reflexionsfähigkeit ermöglichte.
Im naiv-kindlichen Ton, das Unglaubliche auch gar nicht zu glauben und so die Skurrilität herauszustellen, gelang Nawrat nicht nur eine lebendige Familiengeschichte, sondern sogar ein geschichtliches Panorama des 20. Jahrhunderts. Hinter dem Gelächter über die Aberwitzigkeit der Umkehr aller Werte in Auschwitz und den Irrationalitäten des stalinistischen Systems bleibt der Schrecken. Im Schmunzeln, im Gelächter aber können wir ihn wenigstens erinnernd aushalten.
Wenn solche thematische Wucht so geschickt, so elegant, so einfallsreich, so erleichternd humoristisch uns ins Bewusstsein tritt wie bei diesem Roman-Marathon, dann hat Literatur ihre Aufgabe erfüllt. Dann dürfen wir ruhig lachen.
Ursula März: Für eine Nacht oder fürs ganze Leben. Fünf Dates. Hanser Verlag München, 228 Seiten, 19,90 Euro.
Matthias Nawarat: Die vielen Tode unseres Opas Jurek. Roman.
Rowohlt Verlag Hamburg, 408 Seiten, 22,95 Euro.
Abbas Khider: Ohrfeige. Roman. Hanser Verlag, 220 Seiten, 19,90 Euro. Packende Autoren der Gegenwart
Ursula März, 1957 in Herzogenaurach geboren, studierte Literaturwissenschaft und Philosophie und war nach dem journalistischen Volontariat zunächst als Autorin für den Rundfunk tätig. Seit den 1990er Jahren arbeitete März als Literaturkritikerin und Feuilletonistin unter anderem für die Kulturzeitschrift Kursbuch, die Frankfurter Rundschau und Die Zeit. Für ihre Tätigkeit als Kritikerin und Publizistin wurde März mehrfach ausgezeichnet.
Abbas Khider wurde 1973 in Bagdad geboren. Seit er 19 Jahre alt war, ist er wegen politischer Aktivitäten gegen das Regime Saddam Husseins sowie auf der Flucht insgesamt elf Mal verhaftet worden.
In den Jahren 1993 bis 1995 wurde er in einem irakischen Gefängnis gefoltert, kam 1996 frei und hielt sich danach auf seiner Flucht in verschiedenen Ländern wie Jordanien und Libyen auf. 2000 fand Khider in Deutschland Asyl. In München und Potsdam studierte er Literatur und Philosophie. 2007 erhielt er die deutsche Staatsbürgerschaft.
Matthias Nawrat, geboren 1979 in Opole, siedelte 1989 mit seiner Familie nach Bamberg über. Er studierte Biologie und anschließend Literatur am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel/Bienne. Sein Debütroman "Wir zwei allein" erschien 2012 bei Nagel & Kimche. Nawrath lebt in Berlin.
Coburg liest wird veranstaltet vom Coburger Literaturkreis, der Buchhandlung Riemann, der Volkshochschule und des Landestheaters. Es findet mit Unterstützung der Kulturabteilung der Stadt Coburg und verschiedener Sponsoren statt.
Das weitere Programm bringt heute eine Doppellesung im Großen Saal von St. Augustin. Gesine Baur stellt ihre Mozart-Biografie vor. Lea Singer liest aus ihrem Roman "Anatomie der Wolken", in dem sie die Begegnung des alternden Goethe mit dem jungen Caspar David Friedrich beschreibt. Beginn ist um 20 Uhr. Am morgigen Dienstag um 20 Uhr wird im HUK-Foyer Martin Walser zur Autoren-Gala erwartet.