Coburg: Die Magie der Lyrik

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Der begeisternde Lyriker Jan Wagner zusammen mit Moderator Reinhard Heinritz bei "Coburg liest". Carolin Herrmann
Der begeisternde Lyriker Jan Wagner zusammen mit Moderator Reinhard Heinritz bei "Coburg liest". Carolin Herrmann
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

Der Büchner-Preisträger Jan Wagner führte bei Leise am Markt in lyrische Abenteuer.

"Man rechnet ja nicht damit." Von Jan Wagner, dem "amtierenden" Büchner-Preisträger, haben die Besucher von Coburg liest 2018 bestimmt einiges erwartet, als sie den für Literatur nicht weniger als für die Musik geeigneten kleinen Saal bei Leise am Markt füllten. Aber so etwas zu sehen, zu hören, zu spüren...
Poesie als Abenteuer, ach, das ist eine selbstverliebte Dichterfloskel. Jan Wagner aber kam wie ein unscheinbares Bürschchen herein (obwohl er gar nicht mehr so jung ist) und schien im Laufe dieses anregenden Abends immer kraftvoller, ja mächtiger zu werden, ein Freibeuter der Wortmeere. Je weiter er sich wehen ließ durch die Weiten seiner Gedichtwelten, umso verwegener wirkte er, umso mitreißender, dabei ohne Attitüde, sondern eben mit bis heute nicht gekappter Begeisterung des Kindes, des neu in die Welt gekommenen Menschen, der eine Winzigkeit sieht und darin das Große und Weite erkennt, gefüllte Champignons etwa, oder eine Säge, mit der am Ende die nordische Jungfrau Brünhild zersägt wird, oder einen verlorenen Handschuh.
Und der in der Lage ist, das virtuos in rhythmisch fließende Worte zu fassen. Und dann auch noch lautmalerisch perfekt zu artikulieren. Wenn der Giersch, der das Begehren schon im Namen trägt, seine Kassiber in den Garten eines jeden jagt und stets zurückkehrt wie eine alte Schuld. Wenn Wagner in Australien Koalas sieht, so viel Schlaf in einem Baum, diese verlausten Buddhas, die versunken bleiben in ihrem Traum aus Eukalyptus. Wenn durch die Flughäfen der Traum von Europa zwischen kostbarer Eigenwilligkeit der Staaten und begeisterter Gemeinschaft tanzt, und sei es in Käse-Extase, die der streng duftende Einkauf in der Tasche unter den französischen Sicherheitskontrolleuren auslöst.


Der befreiende Zwang der Formen

Die vielen, vielen Gedichte, die Jan Wagner seit 2001 veröffentlicht hat, führen aus Alltagsbeobachtungen heraus in üppige Geschichten, transportiert von Formenreichtum, dessen Konstruktion man aber nicht wahrnimmt. Stimmt, wie Jan Wagner das so anschaulich erklärt. Er rechnet ja selbst nicht damit, welch magische Wege und Welten sich plötzlich auftun, wenn er zwei sich eigentlich fremde Worte zusammenspannt. So erklärte er sein eigenes unentwegtes Staunen im von Reinhard Heinritz wohlüberlegt geführten Gespräch nach der eigentlichen Lesung.
Das Spiel mit womöglich alten, gar toten, eigentlich zwanghaften Silbensystemen und Rhythmen zwinge ihn, höher zu springen. Es ist gerade die Form, die zu befreitem Denken führt - natürlich nur, wenn man, wie Wagner, es beherrscht, nicht nur krampfhaft die Form zu füllen. Sondern im richtigen Moment loszulassen. In solch freibeuterischen Wind geraten, "ist ja alles höchst erstaunlich um uns her".
Aber wie soll es einem poetisch infizierten Geist schon ergehen, wenn er "unter Kapitänen" in einer norddeutschen Kleinstadt aufgewachsen ist, die sich der Reihe nach alle vorhandenen Witwen vornehmen und sich von deren weißen Königspudeln wie von einem Segel durch den Ort ziehen lassen. Gelegentlich schwankend im Wind mit der Stärke von - 2,8 Promille.
Ob Wagner nun seine selbstverständlich auch poetisch verdichteten Prosatexte zur humorvoll ironischen Vorstellung seiner selbst bis in den letzten Konsonanten prägnant vorträgt, oder eines seiner ganz im Jetzt, aus historischer Inspiration oder aus kulturellem Menschheitsreichtum sich reckenden Gedichte, Jan Wagner ist ein virtuoser Wortspieler, der ungebremste Freude an der Existenz, an den Dingen selbst lebt und lebt.


Minnesang im Heute

Großes Anliegen des Moderators und des Dichters war es, auf die Bemühungen zu verweisen, unser literarisches Erbe, das ganz alte, im Heute erlebbar werden zu lassen. Beide empfinden es als traurig, dass die großartige alte Poesie von Walter von der Vogelweide, Heinrich von Morungen, Oswald von Wolkenstein nur noch papierner "Studierstoff" sei, statt wie in der englischen Kultur immer wieder von Dichtern ins Heute geholt zu werden. Jan Wagner hat zusammen mit dem Mediävisten Tristan Marquardt eine große Anthologie des Minnesangs herausgebracht, "Unmögliche Liebe", übertragen von heutigen Dichtern wie Nora Gomringer oder Durs Grünbein.
Und das war nun nochmals ein ganz anderes Abenteuer des Abends. Denn Reinhard Heinritz ist in der Lage, das Mittelhochdeutsche - "eine wunderbare Sprache", wie er sagt - klangvoll vorzutragen, worauf Jan Wagner dann die Nachdichtungen las. Verblüffend, was in diesen alten Werken an Leidenschaft, Brisanz und Wucht steckt, wenn sie uns nicht nur in der germanistisch und lexikal getreuen Prosaübertragung präsentiert werden.
Von klingender Wortakrobatik zur Musik ist es nur ein Wimpernschlag. An diesem Abend waren es, noch weiter in den lyrischen Wagemut eintauchend, der virtuose Landestheater-Klarinettist Philipp Grzondziel in Begleitung von Kyoko Frank am Klavier, die mit so wilden wie ebenfalls poetischen Stücken von Gabriel Pierné und André Messager in der Stimmung hielten.

Jan Wagner: Selbstportät mit Bienenschwarm. Ausgewählte Gedichte. Hanser Berlin, 250 Seiten, 19,90 Euro.

Tristan Marquardt/ Jan Wagner (Hrsg.) Unmögliche Liebe. Die Kunst des Minnesangs in neuen Übertragungen. Zweisprachige Ausgabe. Hanser Verlag, 204 Seiten, 32 Euro.


Zur Person
Jan Wagner, geboren 1971 in Hamburg), legte sein Abitur im Jahr 1992 an der Stormarnschule in Ahrensburg ab und studierte Anglistik an der Universität Hamburg, am Trinity College (Dublin) und an der Humboldt-Universität zu Berlin, wo er mit einer Magisterarbeit über die jüngste Generation anglo-irischer Lyriker abschloss. Von 1995 bis 2003 gab er zusammen mit Thomas Girst die internationale Lyrikschachtel "Die Außenseite des Elementes" heraus. Dieser Offsetdruck war eine Loseblattsammlung, die in einer Schachtel präsentiert wurde, wobei der Leser zum eigenmächtigen Archivieren der enthaltenen Blätter aufgefordert wurde. Vorgestellt wurde unter anderem zeitgenössische persische und niederländische Lyrik. Vorbild für dieses Projekt war Marcel Duchamps Schachtel im Koffer.
Seit dem Erscheinen seines ersten Gedichtbands im Jahr 2001 ist Wagner als freier Schriftsteller, Herausgeber und Übersetzer aus dem Englischen und Amerikanischen tätig. Gedichte wurden in zahlreichen Anthologien und Literaturzeitschriften veröffentlicht. Als Kritiker verfasst Wagner Rezensionen für die Frankfurter Rundschau und andere Zeitungen sowie für den Rundfunk. Seit 2009 ist er Mitglied der Bayerischen Akademie der schönen Künste, seit 2010 der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz, der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt und des PEN-Zentrums Deutschland. Mit Wagners Gedichtband "Regentonnenvariationen" erhielt erstmals ein Lyriktitel den Preis der Leipziger Buchmesse. Höhepunkt seiner überaus zahlreichen Auszeichnungen war im letzten Jahr der Georg-Büchner-Preis. wp