Das Leben ist eine Abfolge grotesker Zufälle. Der Roman-Marathon zum Auftakt der Coburger Literaturtage 2018 forderte die Zuhörer dementsprechend.
"Es geht auch um Zufälle." Der Satz fällt erst spät, im Gespräch nach den drei Lesungen in der Reithalle, nachdem in den Köpfen der Zuhörer, in ihren Fragen nach Konzepten, Gesamtzusammenhängen, Sinnsystemen, logischen Verfahrensweisen des literarischen Schreibens gewühlt worden war. Und dann sagt das diese süße Irene Diwiak einfach so dahin, mit leicht irritiertem Blick: Wär das zu wenig?
Tatsächlich ist es genau das, das die Buchwelten der beiden Österreicherinnen Irene Diwiak und Ingrid Kaltenegger sowie von Simon Strauß bei aller Unterschiedlichkeit im Innersten zusammenhält. Und womöglich unsere eigene, heutige, reale Welt dazu? Bei allen verzweifelten Versuchen, zu ordnen, zu regeln, in den Griff zu kriegen? - Zufälle. Immerzu Zufälle, mit denen die Romanfiguren dann schauen können, wie sie zurecht kommen. Oder steckt da doch ein höheres "System" dahinter, das wir halt zu blöd sind zu erfassen? - Jetzt woll'n wir mal nicht metaphysisch werden. Es reicht auch so schon.
Obwohl! Glaubt Ingrid Kaltenegger an Geister? Sie machte da so ne Bemerkung. Schließlich heftet sich in ihrem Roman "Das Glück ist ein Vogerl" der Geist des toten Egon an die Fersen von Franz, der deppert ist, weshalb ihn seine Linn erst in den Fahrstuhl zum Glück zwingen, dann verlassen will. Dem Geist wie dem Franz passieren immer weiter depperte Sachen, bis es der Egon-Geist wenigstens noch ans Sterbebett der Mali, zu der er sich vor 65 Jahren nicht getraut hat, schafft und die Linn zum abgestürzten Franz sagt "Ich war gerade in der Nähe. Da hab ich mir gedacht, ich komm heim."
Beim etwas gedehnten Vorlesen in der Reithalle kam die unablässige Situationskomik dieses so schön irren Romans nicht ganz rüber. Aber Ingrid Kalteneggers Geschichte bringt einen tatsächlich so lange zum Lachen, bis man glaubt, die Blödheiten der Menschen hätten doch ein Ziel und einen Sinn. Man wird sich doch mal ein bisschen trösten lassen dürfen.
Und was ist das denn mit dem unbekannten Typen, mit dem der von lauter Wohlbehütetsein und Luxus und Gutwilligkeit und Ichmachallesrichtig gelähmte junge Mann bei Simon Strauß einen "Pakt" schließt? Weil er Panik vor der Zukunft, vor totalem Eingepasstsein und Nichtleben bekommen hat.
Ran ans echte Leben
Der junge Mann muss nun sieben Mal um sieben Uhr abends aus der Komfortzone aussteigen und eine der sieben Todsünden begehen und dann den Rest der Nacht darüber schreiben. (So ähnlich sei`s tatsächlich auch mit ihm, dem jungen Redakteur im FAZ-Feuilleton und Sohn des Schriftstellers Botho Strauß, gegangen, zumindest im Kopf, sagt Simon Strauß nach der Lesung.)
Aber begehen Sie mal Todsünden, wenn alles machbar, alles verfügbar, alles erlaubt ist. Da kann man im Laufe des Schreibens schon ein bisschen wütend, und sarkastisch und stinkig werden. Wenn wir allerdings die miesen Grundzüge des Menschen nicht ganz so dramatisch unter "Todsünde" zusammenfassen, dann kommt auch heute genug zusammen...
Simon Strauß am Samstag in der Reithalle wiederum las ein bisschen zu schnell und in sich versunken, weshalb man nicht allen Gescheitheiten seiner klugen Reflexionen folgen konnte. Macht aber nix. Man kriegt schon mit, dass dieser "ich", dieser junge Mann eher selbstironisch durch die Zufälligkeiten des Lebens stolpert und trotz wortreicher theoretischer Durchdringung des eigenen Selbsts jammerläppisch ausgeliefert bleibt.
Sind wir wieder bei Irene Diwiak, die literarisch Gereifteste der drei in
Coburg versammelten Autoren. Bei ihr kommen und verschwinden die Leute ohnehin einfach so. Der vom Ersten Weltkrieg wie viele andere auch schwer versehrte Lehrer Köck findet in den tiefsten Alpen ein Mädchen mit engelsgleicher Stimme, Karoline. Der hinzugerufene Musikexperte Wagenrad nimmt aber deren schönere Schwester Gisela mit mäßiger Stimme mit. Sie macht er über diverse groteske Windungen hinweg zur gefeierten "Gräfin der Stille", und zwar mit der Musik von Ida Gussendorff, die ihr ekelhafter Ehemann August Gussendorff von ihr gestohlen hat.
Köck und Karoline bleiben verschwunden. Andere Gestalten ebenso, obwohl wir auch in deren Leben tief eingedrungen waren.
Blues als hilfreiche Grundhaltung
Irene Diwiaks an Leben und Lebenseinsichten reiches Buch ist eine Satire auf den Kunstbetrieb, auf die Eitelkeit, ja, auch auf die Tragik des Lebens, über die man aber eben am besten nur lacht, womit am Ende die pure Groteske der Zufälligkeiten bleibt.
Am Rande des Geschehens am Samstag in der Reithalle saß ein alter Mann, Rainer Brunn aus Bamberg, und zupfte und sang sehr leicht, sehr lapidar den Blues zwischen all das zufallsgetriebene literarische Getue. Wenn es bei diesem Roman-Marathon um Glaube, Liebe, Hoffnung auch eher lachhaft bestellt war, das passte.
Ingrid Kaltenegger: Das Glück ist ein Vogerl. Roman, Hoffmann und Campe Hamburg, 301 Seiten, 20 Euro.
Irene Diwiak: Liebwies. Roman. Deuticke Wien, 335 Seiten, 22 Euro.
Simon Strauß: Sieben Nächte. Blumenbar, Aufbauverlag Berlin, 140 Seiten, 16 Euro.Ingrid Kaltenegger wurde 1971 in Salzburg geboren, studierte an der Folkwang-Schule Schauspiel und absolvierte an der internationalen Filmschule Köln ein Drehbuchstudium. Der preisgekrönte Kurzfilm "Mann mit Bart", zu dem sie das Drehbuch schrieb, war auf zahlreiche nationale und internationale Festivals eingeladen (Regie: Maria Pavlidou). Für ihr Drehbuch "Wilde Kaiser" bekam sie 2013 den Drehbuchentwicklungspreis der Stadt Salzburg. 2015 gewann sie mit ihrem Text "Punks Not Dead" den Deutschen Kurzkrimipreis.
Irene Diwiak, 1991 in Graz geboren, studierte in Wien Slawistik und Judaistik und anschließend Komparatistik. Sie schrieb Kurzhörspiele, Theaterstücke und Erzählungen. Ihre Texte erschienen in Zeitschriften und Anthologien. Bereits mit zehn Jahren gewann sie ihren ersten Literaturpreis. Es folgten zahlreiche weitere Auszeichnungen. Ihr Debütroman "Liebwies" kam sofort auf die Shortlist für den Debütpreis des Österreichischen Buchpreises.
Simon Strauß, geboren 1988 in Berlin als Sohn des Schriftstellers und Dramatikers Botho Strauß, studierte Altertumswissenschaften und Geschichte in Basel, Poitiers und Cambridge und promovierte an der Humboldt-Universität mit einer Studie über Theodor Mommsen und Matthias Gelzer. Seit 2016 ist er Redakteur im FAZ-Feuilleton. "Sieben Nächte" ist sein literarisches Debüt.
Coburg liest geht heute weiter mit dem Lyriker Jan Wagner, der um 19.30 Uhr bei Leise am Markt liest. Wagner erhielt im vergangenen Jahr den Georg-Büchner-Preis. Am morgigen Dienstag stellt der Kunsthistoriker Florian Illies,Autor des Bestsellers "Generation Golf" sein Buch "Gerade war der Himmel noch blau", literarische Texte über Kunst und Künstler, vor. Die Lesung im Kunstverein Coburg beginnt um 19.30 Uhr.