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Antisemitismus in Franken: "Sie wünschen uns die Pest an den Hals"


Autor: Stephan Großmann

Bamberg, Freitag, 18. Oktober 2019

Martin Arieh Rudolph ist Jude. Im Alltag wird der Vorsitzende der Israelitischen Kultusgemeinde Bamberg regelmäßig mit Antisemitismus konfrontiert. Nach dem Mordanschlag in Halle ist die Angst noch ein Stück größer geworden.
Martin Arieh Rudolph in der Bamberger Synagoge: "Es bedeutet viel Arbeit, den Menschen das Judentum nahezubringen." Foto: Ronald Rinklef


Martin Arieh Rudolph versucht sich nichts anmerken zu lassen. Entspannt sitzt der 54-Jährige auf der langgezogenen Holzbank. Direkt daneben erhebt sich die Bima, die Bühne, auf der die Tora ausgerollt wird. Durch übermannshohe Fenster fällt fahles Herbstlicht in den Gebetsraum. Die übrigen Plätze der Bamberger Synagoge sind heute leer, erst am Freitagabend werden Gläubige dort den Sabbat empfangen. Glauben. Gott. Religion. Starke Begriffe. Was verbinden Juden damit? Öffentlich sprechen mag kaum jemand darüber. Nicht aus Unwissenheit, nicht aus falscher Scham, nicht aus Eitelkeit. Sondern aus Angst. Halle hallt nach.

"Es gibt genügend Menschen, die uns die Pest an den Hals wünschen. Warum auch immer", sagt Rudolph. Er ist Vorsitzender der Israelitischen Kultusgemeinde Bamberg. Zwar müsse man hier nicht unbedingt Angst um sein Leben haben. Auch weil man vorsichtig sei. Ins Gemeindezentrum kommt nicht jeder rein, Kameras registrieren alles und hinter der schweren Eingangstür kontrolliert der Pförtner die Ausweise von Fremden.

96 Vorfälle in sechs Monaten: Darum steckt Antisemitismus so tief in den Köpfen

"Persönlich angegriffen fühle ich mich hier nicht", sagt Rudolph. Aber auch wenn die Gemeinde zurzeit keine offene und offensive Aggression erlebt, schwebe die Angst ständig mit. Vor allem nach solchen Anschlägen wie in Halle. "Ohne Sicherheitsvorkehrungen geht es nicht", weiß Rudolph. Daher werden Gottesdienste und andere Veranstaltungen stets von der Polizei bewacht. "Halle wäre in Bamberg so sicher nicht passiert", meint Rudolph. Und doch bleibe das Unbehagen, "dass man nie weiß, ob es nicht doch einmal jemand versucht, eine undichte Stelle zu finden."

Immer wieder erzählten ihm seine Mitglieder, dass sie die Kippa oder jüdische Anhänger nicht mehr in der Öffentlichkeit trügen. Teils aus Furcht, als Juden erkannt zu werden, teils auch aus zunehmend säkularem Grundverständnis. Das hat zur Folge, dass die Menschen ihren Glauben nicht offen zur Schau stellen möchten, sondern im Gegenteil eher komplett im Stillen vollziehen. Antisemitismus sei stets spürbar, auch im Alltag. Selbst in Franken, selbst in der Provinz. Ähnliches bestätigen Vorsitzende anderer Gemeinden in der Region. Warum ist das so?

"Viel Arbeit, Judentum nahezubringen"

"Antisemitismus und die moderne Gesellschaft gehören zusammen und sind auf das Engste miteinander verwoben", schrieb der Politikwissenschaftler Samuel Salzborn im Jahr 2010. Und tatsächlich ziehen sich die Vorurteile und der oft daraus resultierende Hass wie ein langer, blutroter Faden durch die Weltgeschichte. "Wir müssen heutzutage niemanden mehr davon überzeugen, dass wir keine Pferdefüße haben. Aber es bedeutet viel Arbeit, den Menschen das Judentum nahezubringen." Auch den Juden selbst.

Wie viele Religionsgemeinschaften in der westlichen Welt leiden auch Juden unter der zunehmenden Abkehr ihrer Gläubigen. 681 Mitglieder hat die liberale Bamberger Gemeinde heute. Zum Quorum an religiösen Personen zählen Männer wie Frauen gleichberechtigt, der Frauenanteil an den Gottesdiensten ist in der Regel höher als der der Männer. Jugendliche gibt es ebenfalls, auch wenn sie oft andere Interessen als Religion haben. Weniger als zehn Prozent aller Gemeindemitglieder kommen in die Synagoge. An regelmäßigen Freitagen und Samstagen legt Rudolph, wenn er selbst den Gottesdienst leitet, seinen Gebetsmantel, den Tallit, um und liest aus der Torarolle. Dichter besetzt sind die Reihen an den hohen Feiertagen, wenn der Rabbiner dauernd in Bamberg ist.

Für Rudolph spielt das jedoch kaum eine Rolle: "Auch wenn es gut ist, wenn die Gemeinschaft zusammen in der Synagoge betet, ist Glaube in vieler Hinsicht etwas Individuelles." Tägliche Gebete verrichte jeder für sich, koscheres Essen sei schon wegen der hohen Kosten nicht für jeden finanzierbar. "Es geht nicht darum, jegliche religiöse Vorschrift peinlich genau zu beachten, sondern dass der Grundkonsens, ein Jude zu sein, gelebt wird."

Martin Arieh Rudolphs Weg an die Spitze der jüdischen Gemeinde war lang und ungewöhnlich. 1964 in Freiburg geboren, wuchs er in einer christlich geprägten Familie auf. Gott gehörte für Rudolph also von Beginn an dazu. Später wurde er nach seiner Firmung in einer Dorfkirche im Raum Ulm Mesner, hinterfragte die Kirche aber Stück für Stück. Eine Lehre zum Versicherungsfachangestellten in Ulm und einige Arbeitsjahre in Bonn, ein abgebrochenes BWL-Studium in Coburg und mehrere Jahre in einer Berufsgenossenschaft in Nürnberg und Darmstadt später, verschlug es ihn nach Bamberg. Da war er bereits zum Judentum konvertiert, lernte fleißig hebräisch und brachte sich früh ein in sein neues religiöses Leben. Seit 1992 ist er Teil der jüdischen Gemeinde Bamberg, seit 2013 auch deren Vorsitzender.

Religiöses Bewusstsein ist stets da

Auf die Frage, wie er sich selbst sieht, sagt Rudolph: "Mein religiöses Bewusstsein ist von morgens an da, wenn ich aufstehe, bis ich abends wieder ins Bett gehe. Jeder Jude ist selbst für sein Seelenheil verantwortlich." Überhaupt würde er sich immer als liberalen Juden bezeichnen wollen. Einkaufen dauert bei ihm zwar etwas länger, weil er die Zutatenlisten seiner koscheren Lebensweise gemäß genau studiert, aber selbst er komme nicht jeden Tag zum Beten. Und die Kippa? "Die trage ich offen, wenngleich ich sie wegen meiner wenigen Haare draußen mit einem Hut bedecke." Rudolph lacht. Damit, dass er bereits Drohbriefe erhalten hatte, habe das nichts zu tun, fügt er schnell hinzu.

Rudolphs Amtsvorgänger, der 2012 verstorbene Heinrich Olmer, wollte das jüdische Gemeindezentrum als offenes Haus etablieren. Mit Erfolg: Es gibt Führungen für Schulklassen und Tanzabende, Menschen in Lebenskrisen finden Hilfe und religiösen Beistand. Und doch scheint jüdische Offenheit in einer Einbahnstraße gefangen.

Der Begriff der Nächstenliebe stammt aus einem Gebot der Tora, Martin Arieh Rudolph verlangt nicht viel: Nur dass Juden endlich die Liebe ihrer Nächsten erfahren. Oder zumindest nicht deren Hass.