Reichlich Stoff für Myten

Es gibt kaum ein Werk in der abendländischen Musik, das derart mit Mythen belegt ist wie das Requiem von Wolfgang Amadeus Mozart. Und das von Anfang an. Es lieferte allerdings auch reichlich Stoff. Schon der Umstand, dass Mozart mitten in der Komposition starb, gab Anlass für die heftigsten Spekulationen: etwa die wildeste, er sei von seinem größten und eifersüchtigsten Konkurrenten, dem Hofcompositeur Antonio Salieri, vergiftet worden. Oder die Geschichte mit dem anonymen Auftraggeber, der Mozart zwingen wollte, sein eigenes Requiem zu schreiben.
Das lieferte überbordend viel Stoff für Vermutungen und Unterstellungen, die etwa in Rimski-Korsakows Oper "Mozart und Salieri" nach einem Text von Alexander Pushkin oder in dem Theaterstück "Amadeus" von Peter Shaffer und dessen berühmt gewordene Verfilmung von Milos Forman gipfelten. Und dann kam auch noch der Status des Unvollendeten dazu.
Des Rätsels Lösung
Aber inzwischen sind nahezu alle Rätsel gelöst, zum Teil mit ganz einfachen Antworten. Dass etwa Salieri Mozart so geschätzt - und auch bewundert - hat, dass er ihn nicht nur unterrichtet, sondern später auch gefördert hat. Oder dass der anonyme Auftraggeber der Graf Franz de Paula Anton von Walsegg war, ein musikliebender Landadliger, der das Requiem am ersten Todestag seiner Frau gerne unter seinem eigenen Namen aufgeführt hätte. Oder dass Konstanze Mozart zwei Schüler ihres Mannes, Joseph Eybler und Franz Xaver Süßmayr, mit der Fertigstellung beauftragte, denn für das unvollendete Requiem hätte sie nicht nur kein Geld bekommen, sondern hätte auch den erheblichen Vorschuss zurückzahlen müssen.
Das alles hat dem Requiem nicht geschadet, zu einem der bekanntesten und meistzitierten Werk Mozarts zu werden. Auch wenn es vor allem im 19. Jahrhundert oft und mitunter auch heftig kritisiert wurde, weil diese liturgische Musik nicht nur in Mozarts Originalteilen, sondern auch in besonders in Eyblers und Süßmayrs Ergänzungen als zu opernhaft und dramatisch und damit als zu weltlich empfunden wurde. Aber das ist genau der Grund, warum das Requiem trotz seines lateinischen Textes heute noch - oder - wieder - so beliebt ist, dass es sich auch außerhalb der sakralen Räume so gut behaupten konnte.
Sprung in die Moderne gelingt
Jetzt hatten sich Stadtkantor Burkhard Ascherl und seine Kantorei Bad Kissingen dieses Werkes angenommen. Begleitet wurden sie bei der Aufführung im Max-Littmann-Saal vom Mitteldeutschen Kammerorchester (Weimar); die Solisten waren Radka Loudova-Remmler (Sopran), Stefanie Rhaue (Alt), Siyabonga July Maqungo (Tenor) und László Varga (Bass). Und es gelang ihnen, einen tragfähigen Spannungsbogen zwischen den beiden Aspekten der Musik, zwischen dem Religiös-Meditativen, nach innen Gewandtem einerseits und dem extrovertierten Bildhaft-Dramatischen andererseits zu schlagen. Und damit das Werk aus seiner Zeitgebundenheit in die Moderne zu holen.
Es waren mehrere Faktoren, die das ermöglichten. Zum einen waren es konzeptionelle Aspekte wie die Tempogestaltung. Da hatte sich Burkhard Ascherl für Zügigkeit entschieden. Natürlich ließ auch er im "Introitus" der Musik genügend Zeit, sich allmählich zu entwickeln und Substanz zu gewinnen. Aber bereits hier geschah das nicht nur durch ein langes Crescendo, sondern auch durch ein kaum merkliches Anziehen des Tempos, bis im "Kyrie" die Musik geradezu explodierte.
Und die Tempowahl im oberen Bereich des Sinnvollen hielt an, auch in den eher meditativen bittenden Phasen wie bei "Voca me" oder dem "Lacrimosa". Dazu kam, dass starke dynamische Kontraste der Musik eine ebenso starke dramatische Kraft gaben und leeres Pathos vermieden. Außerdem: Wenn man Gott um etwas bittet, kann das ja, vor allem, wenn es ernst ist, durchaus auch drängend und nicht unterwürfig sein. Und es spricht auch nichts dagegen, in "Tuba mirum" etwa das Zusammenwirken der exponierten Posaune und des Solo-Basses ein bisschen zu kulinarisieren, denn derartige Konstellationen gibt es nicht allzu oft.
Es war aber auch eine höchst gelungene konkrete Umsetzung. Das Solistenquartett, das in diesem Requiem natürlich nicht die Hauptrolle spielt, war mit vier Leuten besetzt, die sich kennen. Und entsprechend schnell fanden sie rhythmisch und stimmlich zueinander und ließen sich von dem Orchester tragen. Die Weimarer lieferten ein recht stabiles Fundament für Chor und Solisten und gestalteten mit großem Engagement den Vortrieb, der der Musik guttat - und das klanglich sehr gut ausbalanciert.
Keine einfache Aufgabe für den Chor
Natürlich hatte die Kantorei einen großen Auftritt, und man konnte ihr nur ein Kompliment machen, mit welchem Zugriff und welcher Konzentration sich der Chor der keineswegs einfachen Aufgabe stellte. Es war nicht nur die gezielte Ausgewogenheit der vier Stimmregister, die die Durchhörbarkeit und Verständlichkeit der lateinischen Texte so gut werden ließ. Es war auch die Präsenz der Einsätze, die Präzision der Rhythmen und die dynamische Differenzierung, die das Werk inhaltlich wie strukturell erfahrbar machten. Vor allem in den nicht immer einfachen Fugen bewährte sich diese klare Durchgestaltung im bewussten Umgang mit den Themenköpfen.
Für das nächste Mal gäb's nur eine kleine Bitte: im "Confutatis" die Endsilben der drei Wörter "confutatis", " maledictis" und "addictis" nicht zu verschlucken, sondern so zu singen, als endeten sie mit drei scharfen "ß" - nicht nur, weil die identischen Endungen möglicherweise ein bewusstes Stilmittel sein sollten. Sondern weil es nicht so gut wirkt, wenn in der Höchstdramatik der Situation - schließlich wehrt sich hier die Seele gegen das Fegefeuer - die Spannung jedes Mal in ein vernuscheltes Silbenloch fällt und den Spannungsfaden zerreißt.
Nix für ungut! Es wäre ja gar nicht aufgefallen, wenn alles Übrige nicht so toll und mitreißend gesungen worden wäre. Es war nicht nur höchst beeindruckend, diese lateinische Totenmesse zu hören, sondern es machte auch großen Spaß.