Der alte Wasserturm bei Wermerichshausen wird schon lange nicht mehr für die Wasserversorgung gebraucht. In der obersten Etage gibt es eine Kinderstube für Schleiereulen, um die sich unter anderem Daniel Scheffler kümmert.
Vielleicht wird ein Ornithologe - ein Vogelkundler - in den nächsten Jahren in der Ukraine oder in Frankreich eine Schleiereule mit einem Ring am Fuß finden. Wenn darauf "Radolfzell Germania" (das ist die Kennung für die international bekannte Vogelwarte in Radolfzell am Bodensee), die Buchstabenkombination "JC" (das kennzeichnet die Ringgröße) und eine ganz bestimmte fortlaufende Nummer eingeprägt sind, kann man daraus ermitteln, dass diese Eule vor etwa sechs Wochen hoch oben im alten Wasserturm bei Wermerichshausen, an der Straße nach Weichtungen, aus dem Ei geschlüpft ist.
Dieser Wasserturm wird schon lange nicht mehr für die Wasserversorgung gebraucht. Er wurde vom Bund für Naturschutz gepachtet und dient jetzt sozusagen als Tierhotel, erzählt Daniel Scheffler, der Vorsitzende der Kreisgruppe Rhön-Grabfeld im Landesbund für Vogelschutz in Bayern. Auch andere Vogelarten wie Dohlen oder Feldsperlinge haben hier eine Unterkunft gefunden.
Von Gauck ausgezeichnet
Daniel Scheffler ist ein anerkannter Eulenexperte und Naturschützer und wurde für sein langjähriges Engagement von Bundespräsident Joachim Gauck im Jahr 2012 mit dem Bundesverdienstorden ausgezeichnet. Er war mit dabei, als die schon erwähnte kleine Schleiereule und sieben ihrer Brüder und Schwestern beringt wurden. "Dass eine Schleiereule gleich so viel Nachwuchs hat, ist sehr selten", sagt er. Und er geht sogar davon aus, dass dies bereits das zweite Gelege von Mama Schleiereule in diesem Jahr ist. Den Grund dafür erkennt der aufmerksame Beobachter unschwer schon am Fuß des Wasserturmes: Überall sind Mäuselöcher zu sehen, und ihre Bewohner sind die Lieblingsspeise der Schleiereulen. Nicht unbedingt zur Freude der Landwirte und der Forstwirtschaft ist 2015 ein sehr gutes Mäusejahr geworden.
Im Winter 2009/ 2010 sei die Schleiereulenpopulation aus Witterungsgründen total zusammengebrochen, da die Tiere nicht die Fähigkeit haben, im Herbst größere Mengen Fett anzusetzen. Doch nun können sie sich endlich wieder erholen, sagt Daniel Scheffler. Von den vielen Mäusen profitieren natürlich auch viele andere Raubvögel und vierbeinige kleine Raubtiere, die Mäuse auf dem Speisezettel haben.
Die Schleiereulen-Kinderstube ist in der obersten Etage des Wasserturms. Der Weg dorthin ist etwas beschwerlich und führt über schmale und steile Leitern. Dort oben findet man neben einem Tisch und ein paar Stühlen nur zwei in die Fenster eingepasste große Kästen aus Spanplatten. In einem der beiden Kästen haben sich Hornissen angesiedelt, die bekanntlich unter Naturschutz stehen. Der andere Kasten beherbergt das Nest mit den jungen Schleiereulen, die beringt wurden, während die Schleiereulen-Mutter gerade ausgeflogen war, wohl um leckere Mäuse für ihren stets hungrigen Nachwuchs zu besorgen. Die jungen, schon recht groß gewordenen Tierchen waren noch etwas schüchtern und ließen es ohne Probleme zu, dass an ihren Beinen die besagten Ringe befestigt wurden. Die scharfen Krallen an ihren Beinen waren allerdings schon zu spüren. Dann kamen sie zurück in ihren Holzkasten und warteten auf Mama Schleiereule.
Standorttreue Tiere
Schleiereulen seien nach neueren Untersuchungen stammesgeschichtlich recht weit von den echten Eulen entfernt, heißt es in Band 8, Seite 384 von Grzimeks Tierleben. Sie kommen nicht nur in unseren Gefilden, sondern auch in Teilen von Afrika, Amerika und Australien vor. Sie gelten als recht standort-treu, doch wurden hier beringte Tiere auch schon in der Ukraine und in Frankreich gefunden. Die weiteste bisher bekannte Entfernung vom Ort der Beringung beträgt 1380 Kilometer, doch bleiben zwei Drittel der Jungvögel im Bereich von etwa 50 Kilometern um ihren Geburtsort herum.
In guten Mäusejahren wie 2015, wenn also das Nahrungsangebot sehr üppig ist, brüten sie häufig zweimal, und das Gelege ist größer als normal. So kann dann ein durch harte Winter stark gelichteter Bestand wieder aufgefüllt werden.
In schlechten Jahren brüten viele Schleiereulen, die übrigens monogam leben, gar nicht. Laut Grzimeks Tierleben werden sie im Durchschnitt nicht einmal zwei Jahre alt, das älteste bekannte Tier wurde allerdings 18 Jahre.