Bad Kissingen: 16-Jähriger vor Club niedergestochen - jetzt spricht der Täter
Autor: Susanne Will
Bad Kissingen, Samstag, 06. April 2019
Einst war er ein beliebter Schüler, wollte einen sozialen Beruf erlernen. Ein Abend warf sein Leben über den Haufen. Nach einer Messerstecherei äußert sich der junge Mann und mutmaßliche Täter: "Es tut mir sehr leid, was ich getan habe. Aber ich bin mehr als die Vorurteile, die so viele gegen Flüchtlinge haben."
Es hätte eine Happy End geben können. Vatan*, 15 Jahre alt, wird vom Vater in Syrien auf die Flucht geschickt, weg vom Krieg, hin nach Deutschland, in der Hoffnung auf eine Zukunft, wie er sie in der Heimat wohl nie mehr haben wird. Vatan schafft es, er macht seinen Weg. Steht fünf Jahre später kurz vor dem Fach-Abi, er ist beliebt, behütet, er will "ein guter Deutscher" werden. Und dann sticht er in einer Disco im Streit auf einen 16-Jährigen ein. Warum? Eine Rekonstruktion. Zusammengestellt aus den Aussagen von Vatan und Anneliese Zimmer* (68), die sich seit fünf Jahren um ihn kümmert.
Bürokratie trennte die Brüder
Die Bad Kissingerin Anneliese Zimmer war eine der ersten, die vor fünf Jahren im Flüchtlingsheim in Euerdorf half. So traf sie dort auf Vatan, an der Seite seines Bruders (damals 18), den dritten Bruder hat die Bürokratie in eine andere Stadt gespült. Anneliese Zimmer schaffte es, das Trio zusammenzuführen, mit ihrer Hilfe kam Vatan aufs Gymnasium nach Bad Kissingen, später auf die Fachoberschule nach Schweinfurt.
Ein Junge aus gutem Haus: Warum stach er zu?
Sie sehen sich noch immer täglich. Anneliese Zimmer ist für Vatan "eine Mutter", eine Mutter, die er weiterhin siezt. So wurde Vatan erzogen: Respekt vor Erwachsenen. Sein Vater ist Ingenieur, die Mutter Zahnärztin. Der gehobene Lebensstandard ermöglichte es den beiden, drei ihrer fünf Kinder außer Landes zu bringen, als in Syrien Bomben fielen und die Angst, dass die Kinder umkommen, Vater und Mutter bald zersetzten.
"Es war schlimm", sagt Vatan. Die letzten Worte seiner Eltern waren: Pass auf dich auf. Erreiche deine Ziele. Bleib bei deinem Bruder. "Ich habe mein Alles verloren", sagt Vatan, der jedes Wort versteht, aber noch nicht alle deutschen Begriffe beherrscht. "Diese Schicksale werden mittlerweile vergessen", sagt Anneliese Zimmer. Sie weiß, dass Vatan sehr streng erzogen wurde. Dass es nicht nur durch die Erziehung strenge Regeln gab, auch die syrische Kultur hielt Vatan in engen Grenzen. "Trotzdem fehlen ihm aber ein paar Jahre Erziehung", sagt die 68-Jährige. "Ich konnte Wäsche waschen, kochen, ihm bei Behördengängen helfen - aber die Führung, die weitere Erziehung konnte ich ihm nicht geben."
Vatan* ging seinen Weg in Deutschland
Dennoch wurde Vatan ein guter Schüler. Er ist fest integriert bei seinen deutschen Schulfreunden, bei den "Richys", den Reichen, wie er selbst sagt. Zu denen gehörte er in Syrien, zu denen will er auch in Deutschland gehören. "Das sind junge Menschen mit Zielen, wie ich sie habe - die wollen auch später studieren." Dass er sich auch äußerlich nicht von den Gymnasiasten in Bad Kissingen unterscheidet, dafür sorgt Anneliese Zimmer. Vatan ist sehr gepflegt, trägt modische Kleidung. In nichts unterscheidet er sich von den Deutschen - außer seinem dunkleren Teint und dem vollen, dunklen Haar.
"Ich werde oft von Wildfremden gefragt, woher ich mir die Kleider leisten kann"
Doch trotz Jeans und Styling bleibt er natürlich Syrer. Und erfährt zu oft, dass er deshalb angefeindet wird. Er erzählt: "Ich werde oft von Wildfremden gefragt, woher ich mir die Kleider leisten kann, da ich ja nur Hartz4 beziehe und dem Staat auf der Tasche liege." Anneliese Zimmer wirft trocken ein: "Von meiner Rente. Ich habe keine Kinder, ich kann Vatan das ermöglichen."
Die Anfeindungen, die rassistischen Übergriffe gehen weiter. "Ich sitze im Bus mit freien Plätzen. Ein Mann kommt und befiehlt mir aufzustehen - er will meinen Platz." Diese demütigende Situation entschärfte eine unbeteiligte Frau, die sich einmischte. Der Gipfel des Rassismus habe sich im Juli letzten Jahres in der Theresienstraße ereignet. "Eine Gruppe junger Männer verprügelte mich, weil sie Ausländer hassen." Und dabei hatte Anneliese Zimmer Vatan immer gepredigt: Geh solchen Situationen aus dem Weg; wehre dich nicht; du musst noch anständiger sein als anständige Deutsche, denn dich beobachten sie; du darfst keine Angriffsfläche zeigen; du darfst nicht auffallen; du darfst keinen Fehler machen - nicht nur wegen dir, weil sonst dein Aufenthalt in Gefahr ist: "Natürlich wollte ich auch, dass Vatan sich vorbildlich verhält, weil er und alle anderen das Ergebnis unserer ehrenamtlichen Bemühungen repräsentieren."