Jeder fünfte Kissinger mit Migrationsgeschichte

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Traditionelle Trachten und russischer Gesang gehören zu den Interkulturellen Wochen. Foto: Carmen Schmitt/Archiv
Traditionelle Trachten und russischer Gesang gehören zu den Interkulturellen Wochen.  Foto: Carmen Schmitt/Archiv
Eva Matthies Foto: Benedikt Borst
Eva Matthies Foto: Benedikt Borst
 
Albert Köpplin Foto: Benedikt Borst
Albert Köpplin Foto: Benedikt Borst
 
Bevölkerung mit Migrationshintergrund (Stand: 2011) Grafik: Franziska Schäfer/ Quelle: Schader-Stiftung
Bevölkerung mit Migrationshintergrund (Stand: 2011) Grafik: Franziska Schäfer/ Quelle: Schader-Stiftung
 
Bevölkerung mit Migrationshintergrund (Stand: 2011) Grafik: Franziska Schäfer/ Quelle: Schader-Stiftung
Bevölkerung mit Migrationshintergrund (Stand: 2011) Grafik: Franziska Schäfer/ Quelle: Schader-Stiftung
 

In den 1990er Jahren sind 3000 Aussiedler in der Stadt angekommen. Die Integration vieler Menschen in kurzer Zeit verlief nicht ohne Probleme. Was lässt sich daraus für heute lernen?

Das Thema Asyl beherrscht die Nachrichten in den Medien, die Arbeit in Rathäusern und die von Wohlfahrtsverbänden. Rund 1200 Asylbewerber sind derzeit im Landkreis untergebracht, die Große Kreisstadt stellt davon gut 40 Prozent der Kapazitäten. Es ist noch gar nicht so lange her, dass zum letzten Mal tausende Menschen in der Region angekommen sind. 3000 Russlanddeutsche sind in den 1990er Jahren nach dem Zerfall der Sowjetunion in die Kurstadt gekommen. Innerhalb von zehn Jahren hat sich der Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund vervielfacht: Heute hat jeder fünfte Bad Kissinger ausländische Wurzeln.


Problemviertel im Nord-Osten

"Die Integration der Aussiedler ist gemeistert", sagt der städtische Sozialreferent David Rybak. Russlanddeutsche sind Mitglieder in Sportvereinen und arbeiten in hiesigen Unternehmen, ihre Kinder genießen eine gute Ausbildung und sprechen perfekt Deutsch. Die russisch-orthodoxe Kirchengemeinde bereichert das interkulturelle Angebot der Stadt. Die positive Entwicklung wurde von der Motivation der Aussiedler befördert, aus der sie sich entschlossen haben, nach Deutschland zu kommen. "Sie waren Staatsdeutsche und haben gesagt: Wir gehen jetzt in die Heimat zurück", sagt Rybak.

Die meisten kamen mit einem großen Willen, sich anzupassen. Dennoch blieben bei der Integration so vieler Menschen in relativ kurzer Zeit Probleme nicht aus: Drogen, Abschottung und soziale Spannungen führten dazu, dass in der Hennebergsiedlung ein eigenes Problemviertel entstand. Es war viel Sozialarbeit nötig, um die Schwierigkeiten wieder in den Griff zu bekommen.


Desinteresse und Verklärung

Dass die Integration so schwierig verlaufen war, hatte viele Gründe. Sowohl von deutscher, als auch russlanddeutscher Seite wurden Fehler gemacht.

Die einheimische Gesellschaft hat sich damals nicht genug um das Thema gekümmert, findet Eva Matthies, Vorsitzende des Vereins für niedrigschwellige Drogenhilfe Kidro. "Betreuung in dem Sinn gab es damals nicht. Außer, dass Übergangswohnheime zur Verfügung gestellt worden sind, war nichts vorbereitet", sagt sie. Die Kidro hat sich in der Fol ge als wichtige Anlaufstelle für die Russlanddeutschen etabliert: Es wurden selbst organisierte Sprach- und Bildungskurse angeboten, drogenabhängige Jugendliche wurden mit Sportangeboten von der Straße geholt.

Gerade junge Aussiedler, die sich nicht mit der neuen Heimat identifizierten, isolierten sich und bildeten eine eigene Drogenszene. "Sie hatten ein eigenes Verteilernetz aufgebaut und blieben vollkommen unter sich. Es war sehr schwer, an sie ranzukommen", berichtet Matthies. Kidro-Sozialarbeiter Albert Köpplin ist vor 25 Jahren von Kasachstan nach Bad Kissingen gekommen. Er kennt die Integrationshürden nicht nur über seine Arbeit, sondern aus eigener Erfahrung "Bei uns war immer im Pass gestanden: Ich bin deutsch. Wir sind nach Deutschland ausgereist mit dem Gedanken, dass wir Deutsche sein wollen", sagt er.

Die Rückkehr in die neue, alte Heimat war mit Wunschvorstellungen verklärt, die in Deutschland recht schnell den Bach runtergingen. Dass die Aussiedler zum Beispiel nicht als Deutsche akzeptiert, sondern als Ausländer gesehen wurden, sorgte für Frust. Dazu kamen Enttäuschungen in Sachen Arbeitsmarkt: Berufsausbildungen und Studienabschlüsse wurden nicht oder nur in aufwendigen Verfahren anerkannt, so dass sich qualifizierte Frauen und Männer als Putzfrauen oder Hilfsarbeiter durchschlagen mussten.


Andere Voraussetzungen

Ist die damalige Situation mit der heutigen vergleichbar? Nur bedingt, findet die Kidro-Vorsitzende. "Die Motivation, warum die Leute hier sind, ist vollkommen unterschiedlich", sagt sie. Die Menschen fliehen heute vor Krieg, Terror und extremer Armut. Es geht um Existenzängste. Außerdem handelt es sich jetzt nicht um eine homogene Gruppe wie bei den Aussiedlern. Die Flüchtlinge haben unterschiedliche Nationalitäten und verschiedene Glaubensrichtungen. Außerdem ist noch völlig unklar, wer von den jetzigen Asylbewerbern langfristig bleiben darf und bleiben will. "Die Integration wird heute vollkommen anders ablaufen, wobei man sehen muss, wie es sich entwickelt", meint Eva Matthies.

Grundsätzlich habe sich in Deutschland und auch in Bad Kissingen gesellschaftlich viel in Sachen Integration getan. "Wir haben jetzt die Helferkreise, die alles abdecken." Sie warnt davor, die Asylbewerber zu sehr zu umsorgen, weil sie letztlich ein eigenständiges Leben in Deutschland lernen sollen.

"Bad Kis singen hat dazugelernt", sagt Sozialreferent Rybak. Das Thema interkulturelle Vielfalt habe heute einen anderen Stellenwert, was sich an Institutionen wie dem Integrationsbeirat, dem Integrationsbeauftragten im Stadtrat und an der Interkulturellen Woche sehen lässt.