Die Idylle ist nicht von unbegrenzter Dauer

2 Min
Johanna zieht den Frischling "Hexe" groß. Foto: Thomas Ahnert
Johanna zieht den Frischling "Hexe" groß.  Foto: Thomas Ahnert

Noch kann Johanna (11) Hexe, ihren Frischling, auf den Arm nehmen. Aber das Tier wächst schnell und damit beginnen die Probleme: Auswildern geht nicht.

Johanna ist erfahren im Umgang mit Tieren. Kühe und Schweine, Kaninchen und Hühner, Hund und Katze - nichts ist der Elfjährigen fremd. Aber vor zwei Monaten hat sie doch erst einmal geschluckt. Da stand - natürlich nicht ganz unangemeldet - Norbert Paul, der Jagdpächter, vor der Tür und brachte ein zappelndes, verschrecktes Bündel: einen Frischling. Er hatte das kleine Wildschwein auf einem abgedroschenen Rapsfeld gefunden, wo es, von der Muttersau verlassen, herumirrte: "Ihr habt doch eh schon viele Tiere und viel Platz", meinte er . Da komme es auf eines doch nicht an.
Der Zeitpunkt war günstig, denn die Sommerferien standen vor der Tür. Da konnte sich Johanna ganz dem neuen Zeitgenossen widmen. Und das war auch nötig, denn das kleine Tierchen wog, als es ins Haus kam, 856 Gramm. Da war es geschätzte acht Tage alt.
"Die ersten vier Tage hat es überhaupt nichts gefressen. Und auch mit der Flasche war nichts zu machen." Aber dann war der Hunger doch größer als die Verstörung. Zumal Johannas Mutter einen großen Topf mit Haferflockenbrei gekocht hatte - und das seitdem jeden Tag tut. Obwohl Wildschweine ja eigentlich Allesfresser sind - und am liebsten Katzenfutter mögen. Da sind Konflikte vorprogrammiert.
"Hexe" hat Johanna ihren Frischling genannt: "Weil sie manchmal schon richtig garstig ist, weil sie immer ihren dicken Kopf durchsetzen will und weil sie ganz schön schnell ist."
Johanna ist Realistin. Sie weiß, dass sie Hexe nie zum verkleideten Hausschwein domestizieren kann. Aber hat sich eine enge Beziehung zwischen den beiden entwickelt? Eigentlich nicht. Hexe kommt zwar im Schweinsgalopp angerannt, wenn Johanna an den blechernen Futternapf schlägt, aber ansonsten geht sie lieber eigene Wege, folgt ihrer ständig neugierigen Nase. "Nein, sie hängt mir nicht an den Fersen", meint Johanna, "sie hat schon richtige Wildschweinangewohnheiten. Hexe gräbt am liebsten im Grünen und stinkt auch schon manchmal." Wenn sie Letzteres nicht tut, nimmt Johanna sie auch manchmal noch auf den Arm, auch wenn Hexe das nicht so recht ist. Aber mit 3,66 Kilo Lebensgewicht sitzt sie halt noch am kürzeren Hebel. In gut einem Jahr, mit 50 Kilo, wird sie niemand mehr hochheben wollen.
Und Johanna weiß auch, dass die Idylle nicht ewig währt, dass in absehbarer Zeit Probleme zu lösen sind. Denn ein Wildschwein, das sich an Menschen und sogar an Hunde gewöhnt hat - "die beiden sind noch ein Herz und eine Seele" - lässt sich nicht einfach auswildern. Das Hoftor öffnen nützt gar nichts. Hexe würde immer in der Nähe bleiben, aber die Umgebung aufmischen. Deshalb soll sie, möglichst noch vor der Pubertät, ein eigenes Gatter mit reichlich Auslauf bekommen.
In diese Richtungen zielen auch die Überlegungen von Norbert Paul: "Wenn die Tiere in die Pubertät kommen, werden sie aggressiv." Für ihn war der Fund des Frischlings eine Grundsatzentscheidung: eingreifen oder sich selbst überlassen. Offenbar hatte ein Mähdrescher den Kessel - so nennen die Jäger das "Wildschweinnest" - aufgestört und die Bache mit ihren Jungen in die Flucht geschlagen. Hexe hatte wohl ihre Mutter aus den Augen verloren: "Wenn ich sie hätte liegen lassen, hätte sie in der nächsten Nacht der Fuchs geholt und an seine Jungen verfüttert." Paul hat sich für die Rettung entschieden, aber damit auch Weichen gestellt: "Das Tier ist in der Prägungsphase Menschen begegnet, nicht anderen Wildschweinen, das wird nie mehr in die Wildnis zurück kehren."
Nun könnte man es sich ja einfach machen und Hexe im Wildpark Klaushof abliefern, denn da gibt es jede Menge Artgenossen. Aber weit gefehlt! Paul: "Wildschweine haben ein ausgeprägtes Rottenverhalten. Es kommt zwar vor, dass Bachen Frischlinge adoptieren, wenn deren Mutter beispielsweise bei einem Unfall getötet wurde - aber nur, wenn sie noch ganz jung sind und auch nur innerhalb der Rotte." Hexe würde nie integriert werden, sondern ein Opfer dessen, was man beim Menschen Mobbing nennt: "Da muss der Opa halt jetzt ein größeres Gehege bauen." Denn in absehbarer Zeit hat Hexe mit ihren Knopfaugen den Status des Streicheltieres verloren.
Und deshalb gibt es zu guter Letzt doch noch eine Frage zu klären: Ob Johanna Wildschweinbraten mag? "Ja, schon", sagt sie, ohne auch nur kurz zu zögern. "Aber Hexe muss sich keine Sorgen machen."