Als Edgar Rieß aus Bad Brückenau den Nachlass seiner Mutter sortiert, stößt er auf eine tragische Geschichte, wie sie nur das Leben schreibt. Oder der Krieg.
Es ist der 27. Januar 1915, als Amalie Kimpel, geborene Karl, eine Karte zur Post bringt. Sie ist für ihren Bruder Leonhard bestimmt, der als Kriegsfreiwilliger ins Feld zog. Seine Kompanie - die 7. Kompanie des Reserve-Infanterieregiments 4 - liegt im Aillywald südöstlich der französischen Kleinstadt St. Mihiel. "Lieber Bruder", schreibt Amalie, "nach langem Bangen und Harren kam eine lang ersehnte Nachricht von dir. Wir waren sehr erfreut [...], hoffentlich geht es dir noch gut."
Die Karte erreicht den Bruder nie. Mit dem kurzen Vermerk "vermißt" kommt sie zurück in die Heimat.
Es dauert lange, bis die Familie Gewissheit hat: Leonhard Karl, geboren am 11. April 1895 in Würzburg, ist am Abend des 26.
Januar 1915 nach Zeugenaussagen durch Kopfschuss gefallen - wohl nur wenige Stunden, bevor seine Schwester die Karte schrieb.
Banges Warten "Die Familie muss erst im Jahr 1917 erfahren haben, was mit ihrem Sohn passiert ist", erzählt Rieß. Im Nachlass seiner Mutter fand er eine Todesanzeige, die auf den 28. Dezember 1917 datiert ist. Darin heißt es: "Nach fast 3jährigem bangen Vermißtsein wurde uns die traurige Nachricht, daß unser lieber Sohn, guter Bruder, Enkel, Neffe und Cousin Leonhard Karl [...] im Blütealter von 19 Jahren am 26. Januar 1915 durch Kopfschuß den Heldentod erlitten hat." Unterzeichnet ist die Anzeige mit: "In tiefer Trauer: Philipp Rieß, Kgl. Lokomotivführer und Frau Anna, verw. Karl, geb.
Seufferlein (Eltern), Amalie, Susanne, Gretchen und Andreas (Geschwister) nebst den übrigen Verwandten."
Edgar Rieß erfährt erst in den 1990er Jahren, dass der Name Leonhard Karl, der auf dem Kriegerdenkmal am Alten Rathaus steht, etwas mit seiner Familie zu tun hat. Helmut Marx, der heute im Kurstift lebt, recherchierte im Bayerischen Hauptstaatsarchiv. Dabei stieß er auf den Namen Philipp Rieß, der als Lokomotivführer in Bad Brückenau arbeitete - den Großvater von Edgar Rieß.
Trauma wiederholt sich "Das war eine Persönlichkeit", sagt Rieß über seinen Großvater. Stolz, mit weißem Schnurrbart und weißem Haar, habe er ihn in Erinnerung. Durch die Ehe mit der in jungen Jahren verwitweten Anna Karl aus Kitzingen kamen auch zwei Kinder in die Familie: Leonhard und Amalie.
"Wir haben sie immer nur Tante Lia genannt", sagt Rieß. Dass da eigentlich noch ein Onkel gewesen wäre, wusste Rieß nicht.
Doch das Schicksal schlug noch einmal zu. "Ihr Bruder ist im Ersten Weltkrieg gestorben, ihr Sohn im Zweiten", erzählt Rieß. Günter Kimpel wird an Weihnachten 1944 in Lettland als vermisst gemeldet - ebenfalls erst 19 Jahre alt. "Meine Tante hat das nie verwunden. Sie hat sich ihr Leben lang daran geklammert, dass er wiederkommt", erzählt Rieß.
Das Trauma wiederholte sich. Als letzte Worte auf der Karte - in engen Zeilen an den Rand geschrieben - ist zu lesen: "Unter Gruß und auf gesundes Wiedersehen verleibe ich. Deine Schwester Mali".