Widerstandsfähigkeit gegen unwägbare politische Entwicklungen
Unter der Überschrift «Mehr Widerstandskraft» hatten die ehemaligen Verfassungsrichter Gabriele Britz und Michael Eichberger in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» vor ein paar Wochen Änderungen gefordert: Dem einfachen Zugriff des Gesetzgebers sollten jene Strukturen des höchsten deutschen Gerichts entzogen werden, die für dessen Funktionsfähigkeit, Unabhängigkeit und zur Verhinderung einseitiger Besetzung wesentlich sind. «Das entspricht seiner Stellung als Verfassungsorgan und stärkt seine Widerstandsfähigkeit gegen unwägbare politische Entwicklungen.» In den vergangenen Tagen nahm die Debatte Fahrt auf.
In der «Welt am Sonntag» regten Vertreter von SPD und FDP an, Strukturen des Karlsruher Gerichts im Grundgesetz zu verankern und Änderungen des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes ebenfalls nur mit Zweidrittelmehrheit zu ermöglichen. Anlass für solche Überlegungen seien Entwicklungen in Ungarn und unter der früheren PiS-Regierung in Polen sowie Verbalangriffe der AfD auf das Bundesverfassungsgericht, sagte der Grünen-Rechtspolitiker Helge Limburg der Deutschen Presse-Agentur. «Klar ist, dass wir zu allem einen breiten Schulterschluss der demokratischen Fraktionen suchen.»
Manche Unionspolitiker zeigten sich offen, darüber zu sprechen. So teilte der rechtspolitische Sprecher der Fraktion, Günter Krings, der dpa mit, seine Fraktion sei gespannt, ob es seitens der Ampel-Koalition «hier bald konkretere Vorschläge gibt».
Hingegen drückte der Parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CSU-Abgeordneten im Bundestag, Thorsten Frei (CDU), auf die Bremse: «Ich warne einfach vor wie auch immer gearteten Schnellschüssen.» Er sehe derzeit keine Gefahr, dass eine politische Kraft im Bundestag und erst recht nicht im Bundesrat mehr als 50 Prozent bekommen könne. Viel größer sei die Gefahr, dass eine Kraft eine Sperrminorität von einem Drittel der Stimmen erhalten könne.
Welchen Einfluss bekommt die AfD?
Bislang werden die 16 Richter und Richterinnen je zur Hälfte von Bundestag und Bundesrat jeweils mit Zweidrittelmehrheit gewählt. Das Verfahren sorgt Frei zufolge dafür, dass ausgleichende Kandidaten gewählt werden, die nicht extreme Minderheitenpositionen verträten.
Der Deutsche Anwaltverein sprach sich dafür aus, für die obersten Gerichte von Bund und Ländern sicherzustellen, «dass radikale Sperrminoritäten die Besetzung der Richterstellen nicht langfristig blockieren können». Denkbar sei beispielsweise, dass der Bundesrat die Richterstellen besetze, sofern der Bundestag dieser Aufgabe über einen längeren Zeitraum nicht nachkommen könne.
Der Düsseldorfer Rechtsprofessor Johannes Dietlein erklärte, über die verfassungsrechtliche Festschreibung der Grundstruktur des Gerichts mit seinen zwei Senaten mit jeweils acht Richterinnen und Richtern sollte man sicherlich ernsthaft nachdenken, «auch um der Gefahr eines missbräuchlichen «court packing» vorzubeugen». Damit ist gemeint, dass die Politik ein Gericht vergrößert und Richter ernennt, die wahrscheinlich zugunsten der eigenen politischen Vorstellungen entscheiden - wie es etwa am Obersten Gerichtshof der USA passiert.
Konkret geht es hierzulande um die Sorge, angesichts von Umfragewerten von 20 bis 30 Prozent könne die AfD an Einfluss gewinnen. Diskutiert wird auch, ob dann ein dritter Senat mit neuen Richtern und Richterinnen eingerichtet werden könnte, der dann über wichtige - gerade parteipolitisch geprägte - Streitfälle entscheidet.
«Wehret den Anfängen»
Professor Gusy überrascht nicht, dass jetzt über Änderungen gesprochen wird. «Man stellt fest, dass Demokratien anfälliger sind, als wir lange dachten.» Daher gehe es darum, präventiv tätig zu werden - bevor eine Partei zu groß wird. «Nach dem Motto: Wehret den Anfängen.»
Die Justiz sei das Rückgrat einer demokratischen Gesellschaft, betonte der Deutsche Richterbund. Es gelte deshalb «rechtzeitig die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um die Unabhängigkeit der Gerichte wirksam gegen Angriffe von Extremisten zu schützen».
Die Debatte über das Bundesverfassungsgericht, das einer aktuellen Umfrage zufolge in der Bevölkerung großes Vertrauen genießt, sei auch für die Länder interessant, sagte Gusy. Er verwies unter anderem auf Bayern, wo der Landtag jüngst trotz Vorbehalten 15 ehrenamtliche Mitglieder des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs gewählt hat - darunter AfD-Kandidaten. Hintergrund ist eine Regelung, wonach alle Fraktionen Kandidaten benennen dürfen und im Block abgestimmt wird.