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Strömungskollaps im Atlantik? Vielleicht schon dieses Jahrhundert


Autor: Agentur dpa, Redaktion

Deutschland, Dienstag, 27. Februar 2024

Ein Erliegen der Atlantik-Strömung würde die Welt grundlegend verändern. So warnen Forschende unter anderem vor eisigen Temperaturen in Teilen Europas. Doch wie realistisch ist dieses Horrorszenario - und wann könnte es so weit sein?
Die Strömung im Nordatlantik (Amoc) entwickelt sich zunhemend in eine kritische Richtung.


Was die meisten Menschen in Bezug auf den Klimawandel und das Erdsystem vermutlich wissen: Die Polklappen schmelzen und der Permafrostboden taut. Dass sich die sogenannte Atlantische Umwälzbewegung (kurz: Amoc) abschwächt, ist hingegen weit weniger bekannt. Dabei sind die vermuteten Folgen mindestens genauso bedrohlich

Besonders fatal wäre es, wenn dieses Strömungssystem im Atlantischen Ozean, zu dem auch der Golfstrom gehört, komplett zusammenbricht. Fachleute sprechen von einem bevorstehenden Kipppunkt, denn die Amoc würde innerhalb weniger Jahrzehnte zum Erliegen kommen und sich selbst unter günstigen Bedingungen nicht wieder erholen können. Grob gesagt, verlagert die Amoc Wärme aus dem Süd- in den Nordatlantik und trägt so zu einem vergleichsweise milden Klima in West- und Nordeuropa bei. Ob und unter welchen Umständen dieses System kollabieren könnte, wird gerade intensiv diskutiert - es mehren sich aber die Hinweise dafür.

Strömungskollaps im Atlantik? Was das bedeutet

Niederländische Forscher zeigten im Fachblatt "Science Advanced" kürzlich, dass sie einen Amoc-Zusammenbruch in einem komplexeren Klimamodell unter bestimmten Bedingungen simulieren können. Mehrere Fachleute stuften die Arbeit als solide ein, aber natürlich hagelte es auch Kritik.

Die Niederländer stellten bei ihrer Simulation auch eine Art Frühwarnsystem vor, wonach sich die Nordatlantikströmung eben kritisch entwickelt. Die Folgen wären dementsprechend dramatisch: In manchen Städten Europas könnte die Jahresmitteltemperatur innerhalb von 100 Jahren je nach Region um bis zu 15 Grad fallen - besonders im Nordwesten des Kontinents während der Winter. So könnte es im norwegischen Bergen im Februar um mehr als drei Grad pro Jahrzehnt kälter werden. 

Woanders könnte es wiederum eine beschleunigte Erwärmung geben. Für den Amazonas zeigt das Modell eine drastische Änderung der Niederschlagsmuster und es "wird prognostiziert, dass durch den abrupten Zusammenbruch der Ozeanzirkulation der Meeresspiegel in Europa um 100 Zentimeter ansteigt", sagte Erstautor René van Westen von der Uni Utrecht laut Mitteilung.

Atlantische Umwälzbewegung: Wie das Amoc-System funktioniert

Um die Auswirkungen der Klimakrise auf die Amoc nachvollziehen zu können, muss man sich das System etwas genauer anschauen. Vereinfacht besteht es aus zwei entgegengesetzten Strömungen: Warmes Wasser wird nahe der Oberfläche aus den südlichen Regionen des Atlantiks in den Norden transportiert. Dort kühlt es runter und sinkt in Polnähe ab. Als kalte Strömung fließt es in der Tiefe wieder nach Süden. Treiber sind Dichteunterschiede des Wassers. Es wird in Polnähe also besonders schwer, weil es kalt und salzig ist. Dadurch sinkt es in die Tiefe und sorgt für Dynamik. 

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Die Klimaerwärmung hat auf dieses System jetzt aber eine bremsende Wirkung. Denn zum einen steigt die Temperatur des Oberflächenwassers im hohen Norden. Zum anderen macht der Eintrag von Süßwasser, beispielsweise von schmelzenden Eisschilden, das Wasser dort weniger salzig. Beide Phänomene senken die Wasserdichte des nördlichen Oberflächenwassers, der Antrieb der Amoc wird schwächer - im schlimmsten Fall so weit, dass das Strömungssystem kollabiert. Die Preisfrage ist, unter welchen Umständen das geschehen könnte und vor allem wann. Die Forscher um van Westen geben darauf - wie viele andere Fachleute - keine direkte Antwort. 

Aber: Dänische Forscher wagten im Juli vergangenen Jahres im Fachblatt "Nature Communications" dann doch mal eine Vorhersage zum möglichen Zeitpunkt des Kollapses. Ihre Untersuchungen ergaben nämlich, dass das Strömungssystem mit großer Wahrscheinlichkeit zwischen den Jahren 2025 und 2095 kollabiert. Die Antwort der Fachwelt kam prompt, die Studie wurde stark kritisiert. Viele hielten die Vorhersagen aus methodischen Gründen für nicht haltbar. 

Zusammenbuch der Amoc in diesem Jahrhundert: Massive Kritik an Studie

Niklas Boers von der TU München, der selbst intensiv zu einer Abschwächung der Amoc forscht, kritisiert, dass im dänischen Modell bestehende Unsicherheiten nicht genug berücksichtigt wurden. Die Arbeit mache viel zu vereinfachende Annahmen, allein aus historischen Daten, sagte er der dpa. Andererseits schreiben die niederländischen Forscher um van Westen über die Erkenntnisse der dänischen Kollegen: "Ihre Schätzung des Kipppunkts könnte richtig sein."

Auch Johanna Baehr, Leiterin Klimamodellierung am Institut für Meereskunde der Universität Hamburg, betont im Gespräch mit der dpa die Unsicherheiten einer Prognose: "Wir wissen nicht, ob und wann ein solcher Kollaps kommt, ob in 50, 100 oder 1000 Jahren". Baehr sagt aber auch: "Die Möglichkeit eines Kollapses lässt sich nun nicht mehr völlig von der Hand weisen." Aufgabe der Wissenschaft sei es nun, einen möglichen Zeitrahmen immer weiter einzugrenzen

Für Baehr ist weiterhin der sechste Sachstandsbericht des Weltklimarates (IPCC) das Maß der Dinge. Darin heißt es: Die Amoc werde im Laufe des 21. Jahrhunderts - unabhängig vom Klimaschutz-Szenario - sehr wahrscheinlich abnehmen. Zudem sei man sich relativ sicher (medium confidence), dass das nicht zu einem Kollaps vor dem Jahr 2100 führt. 

Entwicklung von Amoc: Nicht als einziges kontrovers

Die Amoc ist nicht das einzige System, das als sogenanntes Kippelement diskutiert wird. Ende 2023 stellte der "Global Tipping Points Report" fünf große Natursysteme heraus, die vielleicht vor unumkehrbaren Umwälzungen stehen. Allerdings ist es im Einzelfall schwierig, konkret zu sagen, wie nah ein Kippelement am Kollaps ist. Zu viele Komponenten spielen eine Rolle

Für Stefan Rahmstorf vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) muss das Risiko eines Kollapses um jeden Preis gemindert werden. "Die Frage ist nicht, ob wir sicher sind, dass dies passieren wird. Das Problem ist, dass wir es zu 99,9 Prozent ausschließen müssen", schreibt er in einem Blogeintrag. Sobald es ein eindeutiges Warnsignal gebe, sei es schon zu spät.

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