"Nur die Spitze des Eisberges": Chemikalien verseuchen tausende Orte in Deutschland

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Jahrhundertgift verseucht Deutschland: So viele Orte sind betroffen - "nur die Spitze des Eisberges"
Einige PFAS finden unter anderem über Kläranlagen ihren Weg in Flüsse, Seen und Meere.
Jahrhundertgift verseucht Deutschland: So viele Orte sind betroffen - "nur die Spitze des Eisberges"
Corinna Schwanhold/dpa

Sie stecken in Klamotten, Verpackungen oder Kosmetik - und könnten giftig sein. Sogenannte PFAS sind Chemikalien, die bereits an tausenden Orten in Deutschland und Europa nachgewiesen werden. Welches Risiko stellen sie für die Umwelt und den Menschen dar?

Weit verbreitet, langlebig, potenziell giftig und in der Breite noch gar nicht untersucht: So in etwa könnte man ganz knapp die sogenannten "Ewigkeitschemikalien" PFAS (gesprochen: Pifas) beschreiben. Die von der Industrie breit genutzten Substanzen werden derzeit intensiv diskutiert, denn sie sollen einem Vorstoß zufolge in der EU weitgehend verboten werden. Dabei geht es Schätzungen zufolge um insgesamt mehr als 10 000 einzelne Stoffe

Die extrem stabilen Chemikalien, die natürlicherweise nicht vorkommen, können sich in der Umwelt anreichern, auch in Deutschland. Viele mit PFAS - das steht für Per- und polyfluorierte Alkylverbindungen - verunreinigten Orte sind nach Einschätzung des Umweltbundesamtes (Uba) noch unbekannt.

Jahrhundertgift: So viele Orte in Deutschland sind mit PFAS verseucht

"Was wir sehen ist vermutlich die Spitze des Eisberges", heißt es in einer Antwort von Uba-Präsident Dirk Messner an die "Süddeutsche Zeitung" ("SZ"), die der Deutschen Presse-Agentur vorliegt. Am Donnerstag (23. Februar 2022) veröffentlichten Recherchen von "SZ", NDR und WDR zufolge lassen sich an mehr als 1500 Orten in Deutschland PFAS nachweisen. Davon gelten mehr als 300 als Hotspots mit erheblicher Gefahr für die menschliche Gesundheit. Die Daten aus ganz Europa können auf der Webseite des "Forever Pollution Project" eingesehen werden. Messner sprach von einem "wichtigen Beitrag, um das Mosaik weiter zusammenzusetzen".

Viele belastete Orte liegen in Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen, doch auch in Sachsen und Schleswig-Holstein haben die Recherchen verschmutzte Gegenden aufgezeigt. Bayern fällt besonders dadurch auf, dass es zwar vergleichsweise wenige Orte mit nachgewiesener PFAS-Belastung gibt - dafür ist die Belastung jeweils besonders hoch. Es ist jedoch zu beachten, dass viele Orte bislang als "vermutlich PFAS-belastet" gelten, die genauen Werte liegen jedoch noch nicht vor. Auch in Franken gibt es sechs sogenannte Hotspots, sowie drei Orte, die als belastet gelten:

  • Verkehrsflughafen, Nürnberg (Hotspot)
  • Birkensee, Röthenbach an der Pegnitz (Hotspot)
  • Röthenbach, Röthenbach an der Pegnitz
  • Industriestandort, Leinburg (Hotspot)
  • Finstergraben, Leinburg
  • Kläranlage, Diepersdorf (Hotspot)
  • Otto-Lilienthal-Kaserne, Roth (Hotspot)
  • Kaserne Katterbach, Ansbach (Hotspot)
  • Flugplatz, Giebelstadt

Einer der möglichen Wege, wie die Ewigkeitschemikalien in den Boden gelangen, ist bei der Brandbekämpfung. So berichtet die Tagesschau von einer Explosion an einer Abfüllanlage für Paraffin in Kiel im Jahr 2009. Reporter des ARD-Formats "Panorama" entnahmen Bodenproben von der Brandstelle und schickten diese zur Analyse ans Fraunhofer-Institut. Das Ergebnis: Noch knapp 14 Jahre nach dem Unglück könnte der Boden mit PFAS verseucht sein. Das "Jahrhundertgift" steckte offenbar im Löschschaum, der damals zum Einsatz kam.  Auch an zahlreichen Flughäfen und Militärstandorten wurde ähnlicher Löschschaum in der Vergangenheit benutzt. PFAS steckt aber ebenso in vielen Alltagsgegenständen: Regenjacken, Zahnseide, Kosmetik, beschichtete Pfannen, Kettenfett und sogar Burgerpapier.

Chemikalie kann in Essen und Trinkwasser gelangen - viele mögliche Risiken

Die Stoffe sind aufgrund ihrer besonderen Eigenschaften so verbreitet. Die Chemikalien sind sehr stabil, öl- und wasserabweisend. Weder Licht, Bakterien noch Wasser können sie zeitnah abbauen - je mehr davon in die Umwelt gelangt, desto mehr reichert es sich also an. Einige PFAS finden unter anderem über Kläranlagen ihren Weg in Flüsse, Seen und Meere. Im vergangenen Jahr ergab eine Studie, dass PFAS selbst in den entlegensten Weltregionen im Regenwasser nachweisbar sind. "Mit der Aufnahme von PFAS aus verunreinigten Böden und Wasser in Pflanzen und der Anreicherung in Fischen werden diese Stoffe auch in die menschliche Nahrungskette aufgenommen", schreibt das Uba. Menschen können PFAS zudem über die Luft und Trinkwasser aufnehmen.

Welche Folgen das haben kann, ist eigentlich schon seit den Sechzigern bekannt. Einer der größten Hersteller von PFAS, die Firma DuPont, entdeckte damals, dass die Stoffe die Leber von Hasen und Ratten vergrößerten. Ein paar Jahre danach kam bei Tests heraus, dass sich die Chemikalie im Blut der Mitarbeiter anreicherte. Einige PFAS stehen längst im Verdacht, Krebs auszulösen, unfruchtbar zu machen sowie Fettleibigkeit und Immunschwäche bei Kindern zu fördern. Einige PFAS sind bereits weitgehend verboten, weil sie als gefährlich gelten. "Von den relativ wenigen gut untersuchten PFAS gelten die meisten als mittel- bis hochtoxisch, vor allem für die Entwicklung von Kindern", schreibt die Europäische Umweltagentur (EEA).

Kommt ein Verbot in der ganzen EU?

Behörden mehrerer Länder, darunter Deutschland, streben ein weitgehend vollständiges Verbot der Stoffgruppe in der EU an. Dabei handelt es sich um eine Art Vorsichtsmaßnahme. Der Gedanke dabei: Wenn einige der Substanzen nachweislich schädlich sind, könnten es viele andere Vertreter der Stoffgruppe auch sein. Bislang gibt es in Deutschland keinerlei Regeln, die die Nutzung und Entsorgung von PFAS begrenzen.

Aus Sicht des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) ginge ein Komplettverbot zu weit, da dann auch viele Anwendungen untersagt wären, von denen gar keine Gefahr ausgehe. "Ich gehe davon aus, dass die Auswirkungen der Beschränkung für viele Industriezweige erheblich wären", sagte Mirjam Merz, Expertin für Chemikalienpolitik und Gefahrstoffrecht beim BDI, der dpa.

Erfüllt der Behörden-Antrag alle Formalitäten, sollen am 22. März öffentliche Konsultationen starten. Dabei können sich beispielsweise Industrievertreter für Ausnahmen stark machen. Die Entscheidung trifft am Ende die Europäische Kommission gemeinsam mit den EU-Mitgliedsstaaten. Mit einem Entschluss wird 2025 gerechnet.