Kassandra war im Kanalschacht begraben

2 Min
Der Vater von Kassandra verlässt am Mittwoch den Schwurgerichtssaal des Landgerichts in Wuppertal. Foto: Bernd Thissen dpa
Eine Verteidigerin des Angeklagten, Astrid Denecke Foto: Bernd Thissen dpa
 
Staatsanwalt Rüdiger Ihl gibt am Mittwoch (07.04.2010) vor dem Schwurgerichtssaal des Landgerichts in Wuppertal Interviews. Foto: Bernd Thissen dpa
 
Medienvertreter filmen und fotografieren am Mittwoch (07.04.2010) vor Verhandlungsbeginn im Schwurgerichtssaal des Landgerichts in Wuppertal. Foto: Bernd Thissen dpa
 

Er soll die neunjährige Kassandra mit einem Stein halbtot geschlagen und zum Sterben in einen Kanalschacht geworfen haben. Ein erst 15- jähriger Schüler hat die Tat vor dem Wuppertaler Landgericht überraschend gestanden.

Sieben Monate hat der 15-Jährige geschwiegen. Doch der Druck des Gerichts ist für den Jungen, der fast noch ein Kind ist, wohl zu groß. Gleich am ersten Tag des Prozesses um das schier unfassbare Martyrium der neunjährigen Kassandra bricht er sein hartnäckiges Schweigen. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit gesteht der Junge eine Tat, die im Herbst 2009 Deutschland aufgewühlt hat.

Es geschah im beschaulichen Städtchen Velbert-Neviges bei Essen:

Mit einem Stein halbtot geschlagen, wurde Kassandra von ihrem Peiniger in einen 1,50 Meter tiefen Kanalschacht gestopft. Den 30 Kilo schweren Deckel zog er über das Loch, dann versteckte er ihn noch unter Ästen. Es regnete, das Wasser stieg und stieg. Sieben Stunden hockte das lebensgefährlich verletzte Mädchen unter der Erde.

Durchnässt und stark unterkühlt fand sie schließlich ein Spürhund der Polizei. Kassandra wurde gerade noch rechtzeitig gerettet. Drei Wochen später erschütterte die Festnahme des Tatverdächtigen: Er war erst 14 Jahre alt.

Kaum jemand soll den Jungen bei der Verhandlung zu Gesicht bekommen. Er soll nicht schon in einer frühen Phase stigmatisiert werden. Damit Medienvertreter auch nicht den kleinsten Blick auf den angeklagten Schüler erhaschen können, ist die Zufahrt zum Gebäude des Landgerichts mit einer schwarzen Plastikplane verhängt. Auch im Verhandlungssaal L 147 stehen nahe den Türen Sichtschutzwände. Niemand außer den Prozessbeteiligten darf den Saal betreten.

Zum Auftakt huscht Kassandras Vater in einem braunen Jackett und einer ziemlich auffälligen orangefarbenen Krawatte zusammen mit seinem Anwalt in den Gerichtssaal. Der 15-jährige Angeklagte wird mit seinen Eltern über einen Hintereingang in den Saal geführt.

In der Verhandlungspause gehen Staatsanwalt Rüdiger Ihl, Kassandras Vater und die Anwälte wortlos an Presse und Kameras vorbei. Da hatte der junge Angeklagte schon gestanden. Das jugendliche Gesicht von Kassandras Vater ist versteinert.

Erst am Ende des Prozesstages spricht Astrid Denecke, die Anwältin des Jungen, als einzige in der Öffentlichkeit. Ihr Mandant habe ein Geständnis abgelegt, sagt sie knapp in trockenem Juristen-Deutsch. Damit habe er Kassandra eine Aussage vor Gericht ersparen wollen. "Ich denke, er ist erleichtert, dass er ein Geständnis abgelegt hat", sagt Denecke noch und eilt davon.

Mit dem Geständnis wird dem Gericht unter dem Vorsitzenden Richter Ralph von Bargen wohl auch ein aufwendiger Indizienprozess erspart bleiben. Dafür sah sich Staatsanwalt Ihl bereits gut gewappnet. "Es gibt objektive Spuren, die die Täterschaft belegen können", sagte Ihl. Aber es gibt keine Zeugen der Tat. Kassandra kann sich bis heute offenbar weder an das furchtbare Geschehen noch an den Täter erinnern. Auch der Tathergang gab bislang Rätsel auf.

Das Motiv des Täters? Es ist völlig unklar.

Spuren eines Sexualverbrechens gab es nicht. Warum konnte Gewalt am 14. September 2009 mit dieser Macht in eine friedliche Welt hereinbrechen? Was geschah in der halben Stunde zwischen den beiden Attacken des Jungen auf Kassandra? Er soll das verletzte Kind hinter einer Turnhalle liegen gelassen haben, dann aber wieder zurückgekehrt sein. Nach Ansicht der Ankläger kam er zurück, um Kassandra zu töten und die Spuren des Verbrechens zu verwischen. Noch einmal schlug er mit dem Stein zu, bevor er das Mädchen in den Abwasserschacht stieß.

All das Unfassbare geschah unweit des Spieltreffs, wo Kassandra immer die Nachmittage verbrachte. Dort passte der Peiniger Kassandra ab, als der Hort zumachte - nur wenige hundert Meter von ihrem Elternhaus entfernt.

Der Schüler kannte das Mädchen - und er hat eine Vorgeschichte. Schon früher tyrannisierte er nach Elternaussagen Kinder: Deswegen hatte er Hausverbot in dem Hort.

Kassandra konnte erst zwei Monate nach der Tat das Krankenhaus verlassen. Seitdem ist sie in psychologischer Behandlung. Die körperlichen wie seelischen Narben, die Kassandra von ihrem Martyrium davon trug, sind nicht verheilt, heißt es. Und niemand weiß, ob sie je verheilen werden.