Weil sie die aktuellen Maßnahmen zur Eindämmung der Coronavirus-Pandemie für einen massiven Eingriff in die Grundrechte hält, hat Rechtsanwältin Jessica Hamed in einem Eilantrag gefordert, die Maßnahmen zeitweilig auszusetzen. Diesen Antrag hatte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (VGH) in Ansbach abgelehnt. Als Begründung führte das Gericht an, dass es sich auf die Empfehlungen des Robert-Koch-Institutes berufen hätten. Demnach bestehe kein Grund, die Maßnahmen in Zweifel zu ziehen.
Im weiteren Verlauf der gerichtlichen Auseinandersetzung wurde dann bekannt: Es gibt wohl im bayerischen Gesundheitsministerium keine Dokumentation der Maßnahmen, aufgrund derer die Staatsregierung entsprechende Beschränkungen der Grundrechte erlassen hat. Mit der Klage möchte Rechtsanwältin Hamed klären, ob die Beschränkungen der Grundrechte wie unter anderem die Bewegungsfreiheit oder die Versammlungsfreiheit zum Zeitpunkt des Beschlusses verhältnismäßig waren. Als nächsten Schritt strebt sie eine öffentliche Verhandlung an. Zudem möchte sie unter anderem Ministerpräsident Markus Söder (CSU), Gesundheitsministerin Melanie Huml (CSU), Hubert Aiwanger (FW) und Michael Piazolo (FW) als Zeugen befragen.
"Grundrechtsbeschränkungen müssen nachvollziehbar sein" - waren Maßnahmen in Bayern verhältnismäßig?
Dennoch bezweifle sie die Gefahr, die durch das neuartige Coronavirus für die Bevölkerung bestehe, nicht. Jedoch müsse geklärt werden, welche Mittel der Staat einsetzen dürfe und solle, um die Gefahr für die Bürger einzudämmen. Da die Eilanträge bereits vom Gericht abgelehnt wurden, bereitet sich die Anwältin auf das Hauptverfahren vor. Dafür habe sie Einsichtnahme in alle Dokumente, Akten und Vorgänge seitens des Gesundheitsministeriums beantragt, die zu den Einschränkungen der Grundrechte geführt haben.
Von seiten des Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege heißt es indes, dass es keine Akte gebe. In der Begründung des Staatsministeriums ist zu lesen: Es sei „in den hiesigen Verfahren rein tatsächlich nicht möglich, eine Behördenakte vorzulegen, die ein umfassendes Bild über die Erkenntnis liefern könnte, welche bei der Meinungs- und Willensbildung der Staatsregierung im Vorfeld des jeweiligen Normenerlasses Berücksichtigung gefunden“ habe.
Grund für das Fehlen der Akten sei der Fakt, dass sich die Staatsregierung einer Vielzahl von Informationsquellen bedient habe. Daher sei es auch nicht möglich gewesen „eine aktenmäßige Erfassung“ zu gewährleisten. Rechtsanwältin Jessica Hamed reicht der Verweis auf die aktuellen Erkenntnisse des Robert-Koch-Institutes jedoch nicht. Sie bezeichnet es als "unfassbar, zweifelhaft und skandalös", dass es keine Dokumentation zu den Ursachen gebe, die zur Einschränkung der Grundrechte geführt haben. Ihrer Ansicht nach sei es unabdingbar, dass Verordnungen nachvollziehbar sein müssen. Mit dem aktuellen Status Quo sei es nun nicht einmal möglich festzustellen, wie genau es zu den Entscheidungen der Staatsregierung kam und wie gravierend der Freistaat die Gefahrenlage eingeschätzt hatte. Außerdem bedauert die Anwältin, dass das Gericht "nicht auf die Argumente eingegangen" sei. Fener sei es der Anwältin ein "Bedürfnis, die Ereignisse auch aus (rechts)-historischen Gründen umfassend zu dokumentieren".
Heftige Kritik aus allen Richtungen wegen fehlender Dokumente
Gegenüber der Süddeutschen Zeitung erklärte der Juraprofessor Gerrit Manssen von der Universität Regensburg, dass es nicht sein könne, dass es keine Akten gebe. Eine rechtsstaatliche Verwaltung müsse seiner Ansicht nach ihre Entscheidungen dokumentieren, damit Gerichte hinterher überprüfen können, ob die Maßnahmen gerechtfertigt waren. Denn die Maßnahmen hätten schließlich in die Grundrechte eingegriffen.
Auch von den Grünen gibt es derweil heftige Kritik. Die Chefin der Landtags-Grünen Katharina Schulze schrieb auf dem Kurznachrichtendienst Twitter: „Genau deswegen fordern wir seit Monaten ein Corona-Transparenz-Gesetz, mit dem die Regierung alle Daten, Informationen, Modelle und Studien, die als Grundlagen für Entscheidungen, Verordnungen und Gesetzesvorlagen dienen, öffentlich machen!“ Horst Arnold, Fraktionschef der SPD hält die Mitteilung des Staatsministeriums für "höchst verstörend" und deklariert den Vorgang als "Verwaltungsversagen".
Nun soll Aufklärung betrieben werden und alle Mitteilungen, die zu der Entscheidungsfindung geführt haben, offengelegt werden. Das wollen auch die bayerischen Grünen, die mittlerweile eine umfassende Anfrage an das Staatsministerium gestellt haben. So soll anhand von internen Nachrichten, Mails oder der ein oder anderen Akte nachvollziehbar werden, auf welcher Grundlage das Kabinett die Grundrechtsbeschränkungen wegen der Coronavirus-Pandemie beschlossen habe.