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Gletscherabbruch in der Schweiz - Lage spitzt sich weiter zu


Autor: Alexander Milesevic, Agentur dpa

3919 Blatten, Freitag, 30. Mai 2025

Die gestauten Wassermassen hinter dem Schuttkegel des Gletscherabbruchs im Lötschental in der Schweiz sind bedrohlich angestiegen. Jetzt bereiten sich weitere Menschen auf die Räumung vor.
Eine Luftaufnahme, einen Tag nach der massiven Lawine, zeigt einen aufgestauten See und die Zerstörung im Schweizer Dorf Blatten. Ein großer Teil des Dorfes Blatten im Lötschental im Kanton Wallis wurde unter Massen von Eis, Schlamm und Felsen begraben. Zahlreiche Häuser wurden zerstört, eine Person wird vermisst.


Nach dem Gletscherabbruch in der Schweiz verschärft sich die Situation hinter der riesigen entstandenen Geröllhalde: Das Flussbett der Lonza ist blockiert. Deshalb bildet sich dort ein See, dessen Pegelstand zeitweise drei Meter in der Stunde anstieg. Dies habe sich zwar verlangsamt, berichteten die Behörden im Lötschental am Abend. Der See breite sich nun in der Fläche aus. Sie erwarten jedoch, dass die enormen Wassermassen den See bald zum Überlaufen bringen.

"Ziel ist es, diesen Prozess möglichst gut zu antizipieren und die Sicherheit der Bevölkerung weiter unten sicherzustellen", sagte Christian Studer von der Dienststelle Naturgefahren bei einer Pressekonferenz in Ferden im Lötschental. Was genau passieren könnte, versuchen die Spezialisten nun rund um die Uhr mit Erfahrung und Computermodellen vorherzusagen.

Flutwelle oder Gerölllawine Gletscherabbruch in der Schweiz möglich

Dass eine riesige Flutwelle das Tal hinunter donnert, sei zwar nicht wahrscheinlich, aber auch nicht auszuschließen, sagte Staatsrat Stéphane Ganzer, Mitglied der Walliser Kantonsregierung. Der Druck durch das nachfließende Wasser der Lonza sei vorhanden, insofern könnten sich die Wassermassen auch plötzlich einen Canyon durch den Schuttberg brechen. Zudem werde am Freitag (30. Mai 2025) oben im Tal mit 20 Grad Temperatur gerechnet. Dann schmelze der Schnee, was die Wassermengen noch erhöhe.

Nach Angaben von Studer ist jedoch ein Szenario mit einem langsameren Abfluss wahrscheinlicher, bei dem sich "der See sich schrittweise entleert, dass das in geordnetem Rahmen abläuft". Gut sei, dass das Gefälle am Schuttkegel eher flach ist, sagte Studer. Möglich sei auch, dass das Wasser das abgelagerte Material verflüssigt und mit ins Tal reißt. Aber auch dabei sei zu erwarten, "dass nicht allzu viel Geschiebematerial auf einmal abgeht." Im Ort Ferden weiter unten im Tal gibt es ein Staubecken und eine Staumauer. Experten gingen davon aus, dass dort sämtliches Material aufgehalten werde.

Die Lage am Berg bleibt gefährlich. So drohen am Berg Kleines Nesthorn weitere Hunderttausende Kubikmeter Fels abzustürzen. Von dort waren Felsbrocken auf den Birschgletscher gestürzt, der unter der Last am Mittwochnachmittag abbrach und ins Tal donnerte. Von den gigantischen Mengen Geröll wurde ein Teil auf der gegenüberliegenden Talseite hochgeschoben. Dort drohen nun Gerölllawinen. Wie stabil der eigentliche Schuttpegel ist, weiß auch niemand. Weil darin Eis ist, könnten sich Wassertaschen bilden. Räumtrupps der Armee stehen zwar bereit, aber das Gebiet zu betreten sei noch zu gefährlich, so die Behörden.

Abgeordneter spricht von Jahrhundertkatastrophe

Der Abgeordnete Beat Rieder aus dem Nachbarweiler Wiler sprach im Schweizer Fernsehen von einer Jahrhundertkatastrophe. "Es ist ein Ereignis, das das Tal seit Beginn der Geschichtsschreibung nie erlebt hat", sagte er. "Die Leute haben alles verloren, was man sein ganzes Leben aufgebaut hat."

Auf Luftaufnahmen war zu erkennen, dass ein Großteil des Dorfes Blatten von einer meterhohen Schuttschicht begraben ist. Die meisten der wenigen zunächst verschont gebliebenen Häuser sind von der Lonza überschwemmt. Die etwa 300 Bewohner waren letzte Woche in Sicherheit gebracht worden. Ein Einheimischer, der sich am Mittwoch im Katastrophengebiet befand, wird vermisst.

Blatten ist das letzte Dorf im 27 Kilometer langen Lötschental. Es befindet sich auf rund 1.500 Metern Höhe.

Auch Weiler Ried nahe Blatten betroffen

Auch der Weiler Ried, nur einen Kilometer vor Blatten gelegen, ist betroffen. Anwohner Daniel Ritler sagte dem Portal 20 Minuten: "In ein paar Sekunden war die ganze Heimat kaputt." Hof und Haus habe er auf den Bildern nicht mehr gefunden. "Es sah so aus wie auf dem Mond."

Hinter dem Schuttkegel im Lötschental ist der gestaute Fluss Lonza so bedrohlich angeschwollen, dass die Behörden weitere Gemeinden auf eine Räumung vorbereiten. "Wir fordern die Bewohner auf, persönliche Vorbereitungen zu treffen, um innert möglichst kurzer Zeit die Wohnungen verlassen zu können", teilen die Gemeinden Steg-Hohtenn und Gampel-Bratsch auf ihrer Webseite mit. 

Betroffen sind die Gemeinden Gampel und Steg rund 20 Kilometer unterhalb des verschütteten Dorfes Blatten. Insgesamt wohnen in dem Gebiet mehr als 2.000 Menschen, aber der Aufruf gilt nur für die Ortsteile am Talgrund, wie die Gemeinden mitteilen. 

Ist Klimawandel der Grund für die Katastrophe?

Ein einzelnes Ereignis direkt auf den Klimawandel zurückzuführen, ist schwierig, sagte Jan Beutel, Professor an der Universität Innsbruck. Er untersucht seit Jahren den Zustand von Felsen und Permafrost sowie die Auswirkungen des Klimas. Dennoch: "Die starken Veränderungen, die wir heute im Hochgebirge erleben, sind zum großen Teil die Folge des Klimawandels der vergangenen Jahrzehnte", sagte er laut Mitteilung der Universität Innsbruck. "Zu einem gewissen Teil ist die Reise für die nächsten Jahre gebucht – eingeheizt ist schon, und das Tauen und Schmelzen wird unweigerlich weitergehen."

Durch das Abschmelzen der Gletscher und das schnelle Tauen von Schnee könnten Wasser und Wind das Gestein erodieren. Der Permafrost - die gefrorene Gesteinsschicht - werde zunehmend wärmer, und die Schicht, die bei Sommertemperaturen auftaue, werde immer tiefer. "Auftauen bedeutet aber auch, dass mehr flüssiges Wasser zur Verfügung steht – auch im Inneren des Berges – und das schmiert und fördert die Beweglichkeit, getrieben von der Gravitation", sagte Beutel.

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