Druckartikel: Warum der Hype um "Squid Game" völlig übertrieben ist - und warum man die Serie trotzdem sehen sollte

Warum der Hype um "Squid Game" völlig übertrieben ist - und warum man die Serie trotzdem sehen sollte


Autor: Robert Wagner

Seoul, Mittwoch, 13. Oktober 2021

Die südkoreanische Netflix-Serie "Squid Game" ist derzeit in aller Munde. Zu Recht? "Naja", sagt unser Autor. Denn einerseits macht die Serie tatsächlich viel richtig - doch andererseits bleibt vieles auch nur in Ansätzen erkennbar.
HANDOUT - 12.10.2021, ---: Eine Szene aus der 1. Staffel der Netflix-Serie "The Squid Game".  In den neun Folgen wird die Geschichte vom Kampf ums Überleben auf die Spitze getrieben ... Wer es nicht in die nächste Runde schafft, wird umgehend getötet.


Jetzt ist es offiziell: Die südkoreanische Serie "Squid Game" ist die bisher erfolgreichste Netflix-Produktion mit den höchsten Zuschauerzahlen. Innerhalb von nur 27 Tagen hat die Serie weltweit 111 Millionen Menschen erreicht. Und auch in Deutschland hat die Serie zahlreiche Fans - kaum eine Serie wurde in letzter Zeit so intensiv besprochen. Doch ist der Hype wirklich gerechtfertigt? 

Glaubt man den zahlreichen Reviews in den Medienhäusern, handelte es sich bei "Squid Game" um eine geschickt verpackte Gesellschaftskritik. "Wachsende Ungleichheit, Diskriminierung sozialer Minderheiten, extremer Leistungsdruck: Fast alle großen Probleme des Landes werden in der Serie aufgegriffen", schreibt beispielsweise die Deutsche Presseagentur (dpa). Das ist jetzt nicht grundsätzlich falsch, geht aber am Kern der Geschichte völlig vorbei. 

Psycho-Experiment

Denn in erster Linie - und das ist es letztlich, warum ich "Squid Game" empfehlen kann - ist die Serie ein spannendes Psycho-Experiment: Wie reagieren Menschen in Extremsituationen, wenn es um Leben und Tod geht und sie mit moralischen Fragen konfrontiert werden? Sicher, das ist jetzt nicht besonders originell - dieses Thema wurde schon tausendfach behandelt. Aber die Ausformung dieses Themas ist den Machern rund um Regisseur Hwang Dong-hyuk sehr gut gelungen. Beispiel gefällig? Die Teilnehmer müssen bei einem der Spiele der Reihe nach eine Brücke überqueren. Bei jedem Schritt hat der Erste die Wahl: Links oder rechts? Ein Schritt führt weiter, der andere in den Tod. Die Chance ist jeweils 50 Prozent. Als wäre das nicht schlimm genug, findet das Spiel unter Zeitdruck statt: Läuft die sprichwörtliche "Deadline" ab, sterben alle Teilnehmer, die es noch nicht über die Brücke geschafft haben. 

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Auch die Handlung ist an sich nicht übermäßig kreativ: 456 Menschen, von Schulden geplagt und ohne Perspektive, müssen bzw. dürfen in Spielen gegeneinander antreten, um ihrem Elend zu entkommen. Wer sich hier an "Hunger Games" erinnert fühlt, liegt sicher nicht falsch. Aber es gibt deutlich mehr Beispiele: Vor nicht einmal einem Jahr erschien beispielsweise das aus dem benachbarten Japan stammende "Alice in Borderland", bei dem eine Gruppe Menschen in tödlichen Spielen gegeneinander antreten müssen. Also alles nur ein Abklatsch?

Letztlich lassen sich fast alle erfolgreichen Filme und Serien auf bestimmte grundsätzliche Erzählweisen reduzieren. Eine gute Serie muss keine originelle Handlung haben, um gut sein. Und eine originelle Handlung macht andererseits noch keine gute Serie. Squid Game kann mit anderen Facetten überzeugen: Die Art der Spiele, das für das westliche Auge ungewöhnliche, knallbunte Setting, der Kontrast aus Kinderspiel und tödlicher Bedrohung - das alles hat definitiv seinen Reiz. 

Viele verpasste Gelegenheiten

Letztlich bleibt jedoch bei mir das Gefühl, dass die Serie mehr verschenkt, als wirklich einlöst: Die Charaktere hätten Potenzial - sind jedoch meist so überzeichnet und auf bestimmte Eigenheiten reduziert, dass es schwerfällt, sich mit ihnen zu identifizieren. Das ist andererseits vielleicht auch ganz gut, denn, so viel sei verraten, von den 456 Teilnehmern schaffen es nicht alle bis zum Ende der Spiele... Und Game of Thrones-Fans wissen beispielsweise genau, wie es sich anfühlt, wenn an Herzen gewachsene Charaktere wie die Fliegen wegsterben. 

Die oft beschworene Gesellschaftskritik bleibt nur in Ansätzen zu erkennen. Klar, da schwebt der große Geldgewinn als unerreichbares Ziel über den Köpfen der armen Menschen - ein Symbol des kapitalistischen Strebens. Da werden Menschen vom Leistungsdruck in den Ruin getrieben. Da werden Menschen wegen ihrer Herkunft oder ihres Geschlechts diskriminiert. Da ist das Böse eher Ergebnis des eigenen Strebens, als dunkler Mächte. Da sind die Schergen dieses Bösen gesichtslose, gleichförmige Figuren statt fieser Superschurken. Wer darin jedoch ein sozialkritisches Meisterwerk erkennt, hat sich sicherlich bisher nur wenige sozialkritische Serien und Filme gesehen.