Mythos oder Mensch? - John Irvings «Königin Esther»
Autor: Taylan Gökalp, dpa
, Mittwoch, 19. November 2025
Eigentlich wollte John Irving keine langen Romane mehr schreiben. Jetzt kehrt er zurück mit einem Werk über jüdische Identität und Antisemitismus. Und er bringt einen alten Bekannten mit.
Die Geschichte, die Esther von sich erzählt, geht so: Eine in Wien geborene Jüdin, in einem Waisenhaus in Maine aufgewachsen, die Mutter von Antisemiten in Portland ermordet. Und das ist auch schon der Ausgangspunkt einer langen Kette von Ereignissen in John Irvings neuem Roman «Königin Esther».
In seinem inzwischen 16. Werk führt der 83-jährige Altmeister den Leser durch eine Irrfahrt, wie man sie fast nur aus Büchern von Irving kennt: Tragikomische Charaktere mit allerhand Verschrobenheiten kämpfen sich durch Schicksalsschläge und suchen nach fehlenden Puzzleteilen in ihrer Familiengeschichte. Irving gelingt es, wie schon in seinen großen Romanen «Hotel New Hampshire» und «Gottes Werk und Teufels Beitrag», faszinierende Figuren zu schaffen, die den Leser mit jeder Seite mehr ans Herz wachsen.
Rücktritt vom Rücktritt
Dabei hatte Irving nach seinem letzten Werk «Der letzte Sessellift» aus dem Jahr 2023 eigentlich angekündigt, keine längeren Bücher mehr zu veröffentlichen. Mit dem nun in 550 Romanseiten gegossenen Rücktritt vom Rücktritt legt der begnadete Schriftsteller aber eine Geschichte vor, die ihren großen Vorgängern in nichts nachsteht.
Für eingefleischte Irving-Fans gibt es in «Königin Esther» einige bekannte Motive, die immer wieder in den Romanen des US-Amerikaners auftauchen: ein schriftstellernder Protagonist, Ringer, die Stadt Wien, der Handlungsort Maine an der US-Ostküste und die zum festen Irving-Repertoire gehörenden Konflikte um die eigene Identität. Ein alter Bekannter taucht ebenfalls auf: Doktor Wilbur Larch, Leiter des Waisenhauses in St. Cloud und eine Hauptfigur in Irvings weltberühmtem Roman «Gottes Werk und Teufels Beitrag».
Irvings neuer Roman erzählt die Geschichte des jungen Jimmy, der als Adoptivkind im Haus der Philanthropen-Familie Winslow aufwächst. Jimmy wird aufgezogen von Honor, seine leibliche Mutter ist aber Esther, die er noch nie gesehen hat. Esther ist die zweite Hauptfigur in der ungewöhnlichen Mutter-Sohn-Geschichte. Sie lebt in jungen Jahren einige Jahre als Kindermädchen bei den Winslows, geht dann nach Wien und verschwindet schließlich in rätselhafter Mission nach Israel. All das erfährt der Leser jedoch nicht auf den ersten Seiten, sondern viel später.
Ein Pakt zwischen zwei Mädchen
Denn zuvor breitet Irving mit großer Erzählkunst und glänzend geschriebenen Dialogen die Geschichte des Ehepaars Winslow und ihrer Kinder aus. Constance und Thomas Winslow, sie Bibliothekarin, er ein charmanter, aber zu klein geratener Lehrer mit einer Schwäche für Charles Dickens, haben vier Töchter, die allesamt nach einer Tugend benannt sind. Außerdem leben in ihrem Haus von Zeit zu Zeit Waisenmädchen, die sich als Au-Pairs um jeweils eine Tochter kümmern. Die Winslows behandeln sie wie ihre eigenen Kinder.
Das vierte und letzte Waisenmädchen ist Esther, ein jüdisches Kind aus einem Waisenhaus in St. Church, jenem Waisenhaus, in dem sich schon ein wesentlicher Teil der Handlung von «Gottes Werk und Teufels Beitrag» abspielte. Esther kümmert sich um die jüngste Tochter Honor. Die beiden Mädchen sind seelenverwandt und schließen eines Tages einen Pakt, der entscheidend für die weitere Handlung des Romans ist.