Leises Kino statt Moral-Anklage: Jarmusch gewinnt in Venedig
Autor: Lisa Forster, dpa
, Sonntag, 07. Sept. 2025
Geprägt von Krisenstimmung und Kriegen, schwankt das Kino zwischen Reflexion und Anklage. Das zeigen die diesjährigen Gewinner des Filmfests Venedig, Jim Jarmusch und Kaouther Ben Hania.
Der Hauptpreis für einen zutiefst kunstvollen, leisen Film, die zweitwichtigste Auszeichnung für politisches Überwältigungskino: Die Gewinner des Filmfests Venedig zeugen vom Spannungsfeld, in dem sich die Kunst gerade bewegt. Geprägt von Krisenstimmung und Kriegen, schwankt das Kino zwischen Reflexion und Anklage.
Den Goldenen Löwen erhielt US-Regisseur Jim Jarmusch für «Father Mother Sister Brother», einen Episodenfilm über Familiendynamiken. Der Große Preis der Jury ging an die Tunesierin Kaouther Ben Hania für «The Voice of Hind Rajab», ein Dokudrama über ein getötetes palästinensisches Mädchen.
«Das waren die beiden Filme, die uns am meisten bewegt haben», sagte der Jury-Vorsitzende Alexander Payne. «Es waren die beiden Filme, die uns, offen gesagt, zu Tränen gerührt haben.»
Jim Jarmuschs poetischer Löwen-Gewinner
In drei Episoden widmet sich «Father Mother Sister Brother» den komplexen Beziehungen zwischen erwachsenen Kindern und ihren Eltern - und der Sprachlosigkeit, die dabei oft herrscht. Formal bis ins Detail durchdacht, überzeugte der Episodenfilm die Jury mit cleveren Beobachtungen. Gesten, Blicke und Pausen verraten in «Father Mother Sister Brother» mehr über die Beziehungen der Familienmitglieder, als Worte es könnten.
Unter anderen spielen Cate Blanchett, Tom Waits, Adam Driver, Charlotte Rampling und Vicky Krieps mit. «Die Art und Weise, wie du die Dinge verstehst, hat eine ganz eigene Beseeltheit und Poesie», sagte Blanchett zu Jarmusch vor der Premiere. «Wir versuchen immer, Dinge zu definieren und zu kategorisieren, während du all diese seltsamen Verbindungen zulässt, die nicht unbedingt den üblichen Sinn ergeben - wofür ich angesichts der Lage der Welt wirklich dankbar bin.»
Ben Hanias erschütterndes Dokudrama
Kaouther Ben Hanias «The Voice of Hind Rajab» wiederum ist ein teils dokumentarischer, teils fiktionaler Film, der von den letzten Momenten im Leben des palästinensischen Mädchens Hind Rajab im Gazastreifen erzählt. Es starb im Januar 2024 bei der Flucht seiner Familie aus der Stadt Gaza. Der Film sowie mehrere unabhängige Untersuchungen legen nahe, dass Hind Rajab und Teile ihrer Familie von israelischen Streitkräften getötet wurden. Israels Militär bestreitet das.
Das Massaker der Hamas und anderer Terroristen in Israel am 7. Oktober 2023, Auslöser des Gaza-Krieges, spielt im Film keine Rolle. Zentrales Element ist ein nach Angaben der Regisseurin echter Audiomitschnitt: Während das Mädchen im bereits beschossenen Wagen zwischen getöteten Familienmitgliedern festsaß, telefonierte es rund drei Stunden lang immer wieder mit Freiwilligen des Palästinensischen Roten Halbmonds und flehte um Hilfe.