Deutsche hinter dem Verdrängungsvorhang?
Autor: Christoph Driessen, dpa
, Freitag, 03. Oktober 2025
Die Dauerkrisen erschüttern viele. Als Reaktion darauf wird die Vergangenheit verklärt und die kleine private Welt abgeschottet. Kann das gutgehen? Der Psychologe Stephan Grünewald gibt Antworten.
Amerikaner und Franzosen feiern ihren Nationalfeiertag mitten im Sommer, der Tag der Deutschen Einheit dagegen fällt in den Herbst. Die Urlaubstage sind aufgebraucht, die dunkle Jahreszeit steht bevor. Das sind keine idealen Voraussetzungen für ausgelassene Partystimmung.
Und dieses Jahr ist die Gefühlslage der Nation besonders schwierig - so jedenfalls analysiert es der Psychologe Stephan Grünewald in seinem Buch «Wir Krisenakrobaten - Psychogramm einer verunsicherten Gesellschaft», das am Donnerstag (9.10.) erscheint.
Grundlage seines Buchs sind sowohl quantitative Studien des Kölner Rheingold-Instituts als auch tiefenpsychologische Interviews.
«Wir stellen fest, dass seit der Corona-Zeit die Bedeutung der Jahreszeiten zugenommen hat», sagt Grünewald der Deutschen Presse-Agentur. «In der Corona-Zeit war der Sommer immer eine Zeit der Befreiung, in der die Lockdowns aufgehoben wurden und man wieder nach draußen konnte. Jetzt, angesichts von Dauerkrisen wie Ukrainekrieg und Wirtschaftsflaute, öffnet der Sommer ein Fenster der Selbstvergessenheit. Man fährt in den Urlaub, schiebt die Sorgen weg, verwöhnt sich.» Und dann ist plötzlich der Alltag wieder da: «Mit dem Herbst haben wir den Einbruch der düsteren Probleme und Drohkulissen.»
Die Krise als Dauerzustand
Corona, Ukrainekrieg, Energiekrise, Inflation, Rezession, marode deutsche Infrastruktur - die Krise ist zum Dauerzustand geworden. Bei vielen Menschen habe das ein Gefühl der Ohnmacht erzeugt, konstatiert Grünewald. «Das führt dazu, dass man sich ins private Schneckenhaus zurückzieht und zwischen der eigenen Welt und der bedrohlichen Außenwelt einen Verdrängungsvorhang spannt. Diese Minimierung des Gesichtskreises führt zu einer Maximierung der persönlichen Zuversicht.»
Mehrere Umfragen, unter anderem vom Allensbach-Institut, haben es in den vergangenen Monaten gezeigt: Die persönliche Lage wird als eher positiv eingeschätzt, während für Staat und Gesellschaft schwarzgesehen wird.
Als Reaktion auf die Dauerkrise setzen viele Deutsche auf die Beschwörung einer so nicht mehr vorhandenen Normalität. Sie haben sich laut Grünewald in einer Art Nachspielzeit eingerichtet und hoffen, das Alte und Vertraute trotz aller Bedrohung noch eine Zeit lang festhalten zu können. Dies erkläre etwa den derzeitigen Retro-Trend in Film und Fernsehen: Dort werden Geborgenheitserfahrungen der 70er und 80er Jahre recycelt. Grünewald glaubt: «Der Blick in den Rückspiegel kaschiert eine diffuse Endzeitstimmung.»