Druckartikel: Wahlen in Italien und Österreich: Schicksalstage für Europa

Wahlen in Italien und Österreich: Schicksalstage für Europa


Autor: Redaktion

Rom, Mittwoch, 30. November 2016

Seit der Trump-Wahl in den USA hält man in der EU fast alles für möglich. Sind die Abstimmungen in Italien und Österreich Vorboten des Untergangs?
Schicksalstage für Europa: Der anstehende Wahlsonntag in Österreich und Italien schürt bei der EU die Furcht vor neuem Unheil. Foto: Kay Nietfeld/dpa


Der Patient liegt bereits auf der Intensivstation, und jetzt droht auch noch eine Lungenentzündung. "Lebensgefahr" attestiert EU-Kommissar Günther Oettinger der Europäischen Union schon seit Monaten. Das Brexit-Votum im Juni war wie ein Herzinfarkt für die Gemeinschaft, gefolgt von tiefer Depression. Nun schürt der anstehende Wahlsonntag in Österreich und Italien bei der EU die Furcht vor neuem Unheil.

Wird der EU-Kritiker Norbert Hofer in Wien Bundespräsident? Stürzt der EU-Freund Matteo Renzi in Rom über sein Verfassungsreferendum? Noch vor ein paar Jahren hätte man dem in Brüssel wohl einigermaßen gelassen entgegengesehen.


EU ist geschwächt

Doch die EU ist geschwächt von Krisen und Breitseiten, von Selbstzweifeln und Populismus - und seit der Wahl des Milliardärs Donald Trump in den USA hält man auch in Europa fast alles für denkbar, sogar ein Auseinanderbrechen der EU. Davon ist sie aber aus Sicht des ehemaligen Diplomaten Stefan Lehne vorerst weit entfernt. "Am 4. Dezember passiert weder in Italien noch in Österreich etwas, was an und für sich schwerwiegende Auswirkungen haben wird", sagt Lehne, der am Institut Carnegie Europe forscht.

Ähnlich sieht man die Abstimmungen bei der EU selbst und versucht, die Nerven zu behalten. "Ich möchte das weder unterschätzen noch dramatisieren", sagt ein hoher EU-Beamter. "Wir müssen sehen." Die Wahl des österreichischen Bundespräsidenten ist eher symbolisch, und Hofer stellt die EU zunächst nicht grundsätzlich in Frage. Für Italien wiederum wäre es beileibe nicht die erste Regierungskrise.


Möglicher Todesstoß

Doch könnten Erfolge für die rechtspopulistische FPÖ in Österreich und für die EU-kritische Fünf-Sterne-Bewegung in Italien Signale setzen - für mögliche Regierungswechsel in beiden Ländern und für das ganze Wahljahr 2017 in Europa.

In den Niederlanden steht der EU-Kritiker Geert Wilders für die Wahl im März in den Startlöchern, in Frankreich hofft die Rechtspopulistin Marine Le Pen im Mai auf Erfolg. "Das gefährlichste ist die französische Präsidentschaftswahl", sagt Lehne. Würde Le Pen wirklich gewählt und triebe sie wirklich den Austritt aus dem Euro oder der EU voran, das "wäre der Todesstoß für Europäische Union". Lehne hält das für "extrem unwahrscheinlich", doch die Erfolgsserie der Populisten lässt die etablierten Parteien zittern. Seit 2014 stellen europakritische Parteien 174 der 751 Abgeordneten im Europäischen Parlament, wie Nicolai von Ondarza von der Stiftung Wissenschaft und Politik aufschlüsselt.

In sieben von 16 nationalen Wahlen gewannen EU-Skeptiker seither dazu, so in Dänemark, Estland, Großbritannien, Lettland, Polen, Schweden und der Slowakei. In sieben der 28 EU-Länder regieren europaskeptische Parteien mit. Regierungsparteien wie Fidesz in Ungarn oder die PiS in Polen feuern Salven gegen Brüssel. Und linke Kritiker wie Syriza in Griechenland oder Podemos in Spanien lehnen zumindest den derzeitigen Kurs der EU ab. "Für Links und Rechts ist Brüssel ein sehr bequemer Feind", sagt Lehne.

Die Gemeinschaft hat also zu viele Gegner und zu wenige glühende Verfechter - dem Patienten fehlen Abwehrkräfte. Und die vielen Krisen ruinieren sein Immunsystem: die Wirtschafts- und Finanzkrise, die Norden und Süden seit 2009 entzweite; die Terrorkrise, die fehlende Zusammenarbeit beim Schutz Europas offenbarte; und die Migrationskrise, über die sich Süd-, Mittel- und Osteuropäer zerstritten haben. Dazu kommt ein globaler Zeitgeist gegen Institutionen, gegen herkömmliche Politik, gegen Eliten, der auch Trump bei der US-Wahl half. Global, multinational, EU-weit, das ist vielen zu groß und zu unübersichtlich.


"Überdosis von Problemen"

Der Nationalstaat soll es richten. "Die Europäische Union steht im Epizentrum politischer Beben, die die europäische Ordnung bis in die Grundfesten erschüttern", meinen die Wissenschaftler Ronja Kempin und Hanns Maull.

Dennoch sieht Lehne die größte Gefahr für die EU nicht darin, dass ist sie zerbricht, sondern dass eine "Überdosis von Problemen" ohne Lösung sie lähmt, dass als Minimalkonsens nur noch der Binnenmarkt bleibt, dass der Wille zu Reformen fehlt, dass jede neue Krise sie ins Trudeln bringt - etwa Italien nun die Eurokrise neu aufflammt.


Studie: Angst vor der Globalisierung treibt den Rechtspopulisten die Wähler zu

Was treibt rechtspopulistischen Parteien in Europa die Wähler zu? Sind es persönlichen Werte, also zum Beispiel die Angst vor einer zu liberalen Gesellschaft? Ganz und gar nicht, sagen Wissenschaftler der Gütersloher Bertelsmann-Stiftung. Nach einer Studie aus ihrem Haus gibt es ein länderübergreifendes Phänomen: Die Mehrheit der Anhänger von Parteien wie der deutschen AfD, der französischen Front National, der FPÖ in Österreich, der italienischen Forza Italia oder der britischen und EU-kritischen UKIP sieht in der Globalisierung eine Bedrohung.

Dabei spielt das Flüchtlingsthema die größte Rolle. Globalisierungs-Pessimisten fürchten sich nach der Analyse der Bertelsmann-Stiftung mit 53 Prozent am meisten davor, wie die Migration von Flüchtlingen in ihren Ländern gelingen soll. Erst dann folgen mit großem Abstand die Angst vor Kriegen, Armut, Kriminalität (alle 45 Prozent), Wirtschaftskrisen und Terrorismus (beide 43) und Umwelt (42).


Ablehnung der Politik

Dass die traditionellen Werte wie ein konservatives oder autoritäres Weltbild der potenziellen Wähler von Populisten eine eher untergeordnete Rolle spielt, hat die Forscher der Bertelsmann-Stiftung überrascht. "Dass das Ergebnis so klar in Richtung Angst vor Globalisierung ausfällt, damit habe ich nicht gerechnet", sagt Isabell Hoffmann, Autorin der Studie.

Dass jetzt das Angstgefühl der Hauptgrund ist, darin sehen die Forscher aber durchaus etwas Positives. Die Politik könne das Thema Angst leichter auflösen als seit Jahren gefestigte Werte. Die Auseinandersetzung mit den Ängsten bei der Globalisierung, im Speziellen bei Flüchtlings- und Migrationsfragen, gehört laut Studie zu den zentralen politischen Herausforderungen der kommenden Jahre für die Politiker im EU-Raum. "Nur wer sie aufzulösen weiß, wird Wähler von den populistischen Parteien zurückgewinnen können", lautet das Fazit der Studie.

Dumm nur: Laut Studie sind Globalisierungsängste immer auch gekoppelt an eine ablehnende Haltung gegenüber Politik und Gesellschaft. Nicht mal jeder zehnte der Globalisierungspessimisten (9 Prozent) vertraut Politikern allgemein und weniger als die Hälfte (38 Prozent) ist zufrieden mit der Demokratie in ihrem Land.
Bei der Forderung der Studien-Autoren an die Politik wurden die Forscher bereits von aktuellen Entwicklungen eingeholt.

Laut Beobachtungen der Bertelsmann-Stiftung haben die Parteien in Europa bereits reagiert und Strategien entwickelt. Als Beispiele nennt die Studie dafür die "Methode May" und "Methode Merkel". Die britische Premierministerin Theresa May hat ihre politische Rhetorik umgestellt. Auf dem Tory-Parteitag in Birmingham im Oktober 2016 machte May Aussagen, die mit der bisherigen Parteilinie nicht übereinstimmten.

"Eigentlich waren nicht die Tory-Wähler ohne Globalisierungsängste ihr Ziel, sondern UKIP- und Labour-Wähler", heißt es im Fazit der Studie. Bei Merkel sei ein deutlicher Politik-Schwenk mit Änderungen in der Flüchtlingspolitik zu beobachten. Allerdings fehle bei der Kanzlerin bislang ein nachhaltiges rhetorisches Zeichen.

Das sei bei der Finanzkrise mit dem Hinweis auf die sicheren Spareinlagen der Bürger anders gewesen. Die Studie erinnert an den Moment, als die Kanzlerin sich zusammen mit Peer Steinbrück 2008 an die Bundesbürger wandte. Im November veröffentlichten die britischen Meinungsforscher der Firma YouGov ebenfalls Zahlen zum Thema Populismus.

Demnach sind die Deutschen im am wenigsten empfänglich für populistische Politik. So teilen in Deutschland 18 Prozent der Wähler politische Überzeugungen, die von Parteien wie der AfD bedient werden. dpa


Kommentar von Christoph Hägele: Globalisierung muss sich für alle lohnen

Die Ängstlichen und sich abgehängt Fühlenden: Entgegen ihr eigenen Wahrnehmung können sie sich über einen Mangel an öffentlicher Aufmerksamkeit derzeit sicher nicht beklagen. Das ihnen geltende Interesse von Politik und liberalem Bürgertum ist seinerseits aus Angst und Sorge geboren: Angst vor dem eigenen Bedeutungsverlust, Sorge um die liberale Demokratie.

Wer die Ängstlichen und Frustrierten wieder für sich gewinnen will, muss wissen, was genau sie ängstigt und frustriert. Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung legt nun nahe, dass insbesondere das Unbehagen an der Globalisierung Wähler in die Arme von AfD, Front National oder FPÖ treibt. "Globalisierung", das ist eine Chiffre für Einwanderung und Freihandel, Automatisierung und drohenden Jobverlust.

Wahr ist: Die Globalisierung hat die Gesellschaften unter gewaltigen Anpassungsdruck gesetzt. Wirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit musste und muss erkauft werden mit dem Abbau sozialer Anrechte, mit deregulierten Arbeitsmärkten, offenen Grenzen und auch einem Bedeutungsverlust nationaler Identität. Die Globalisierung kennt deshalb nicht nur Sieger.

Dennoch: Vor allem dem freien Handel, dem Austausch von Wissen und der Bewegungsfreiheit ihrer Bürger verdanken die Staaten Wohlstand und die Chancen auf eine gute Zukunft. Diese internationalen Verflechtungen wieder zu kappen, wie dies viele Rechtspopulisten vollmundig versprechen, würde deshalb lediglich heraufbeschwören, wovor sich ihre Wähler fürchten: Wohlstandsverluste und verschwindende Arbeitsplätze.

Wer den Rechtspopulisten das Wasser abgraben möchte, darf deshalb bei einer - gewiss notwendigen - restriktiveren Asylpolitik nicht stehenbleiben. Stattdessen müssen Wohlstand, Jobs und Aufstiegschancen künftig auch dort ankommen, wo Strukturschwäche und Perspektivlosigkeit viele dem Staat entfremdet haben. Auch reformierte, die mittleren und unteren Schichten entlastende Steuersysteme könnten den dringend notwendigen sozialen Ausgleich schaffen.

Menschen mit rassistischem Weltbild wird dies sicherlich nicht in die liberale Mitte der Gesellschaft zurückholen. Dem zum Trotz bleibt das beste Mittel gegen die Rechtspopulisten, mehr Menschen an den Vorteilen der Globalisierung teilhaben zu lassen.