Druckartikel: "Sandmann" - Oper zwischen Wahn, Traum und Wirklichkeit

"Sandmann" - Oper zwischen Wahn, Traum und Wirklichkeit


Autor: Monika Beer

, Samstag, 22. Dezember 2012

Eine Gruppe aus Bamberg besuchte in Basel die letzte Vorstellung der dort uraufgeführten Oper "Der Sandmann" von Andrea Lorenzo Scartazzini, einem Stipendiaten des Internationalen Künstlerhauses Villa Concordia.
Ryan McKinny als Nathanael und Agneta Eichenholz als Clarissa Foto: Monika Rittershaus


Er war auch da! Ernst Theodor Amadeus Hoffmann ließ es sich nicht nehmen, der Derniere der Oper "Der Sandmann" von Andrea Lorenzo Scartazzini im Theater Basel die Ehre zu geben. Jedenfalls hätte ich schwören können, dass er gegen Ende mit auf der Bühne saß, links auf einem der Stühle, dem Publikum den Rücken kehrend, ganz hingegeben dem spannenden Geschehen, das erstmals anno 1815 aus seiner Feder floss. Noch ohne Musik.

Klar, dass sich seine gern als schauerromantisch apostrophierte Erzählung fast 200 Jahre später etwas anders lesen würde. Sowohl inhaltlich als auch formal.

Librettist Thomas Jonigk nahm aus der Vorlage wesentliche Figuren und Motive, stellte sie aber in neue, überraschende Zusammenhänge. Der hochsensible Nathanael geht in der zehnteiligen Szenenfolge zwar auch einer Puppe auf den Leim. Er scheitert aber nicht nur als Mann und Mensch, sondern ebenso als Schriftsteller, der bei seinem "Sandmann"-Roman über die ersten Seiten nicht hinauskommt.


Trockene Sprache, emotionale Musik

Während sich das Libretto dieses zwischen Wahn, Traum und Wirklichkeit oszillierenden Künstlerdramas einer heutigen, direkten, eher trockenen Sprache bedient, ist die Komposition des aktuellen Villa-Concordia-Stipendiaten Scartazzini voller Emotionalität. Mal in feinen Bläser- oder Streichergespinsten, mal in vielsagendem Solistenparlando und lautmalerischem Chorgeblubber, mal in schrägen Ziehharmonikafetzen, Celestageklingel und schroffen Klanggebirgen lässt er Nathanaels Kindheitstrauma implodieren und explodieren.

Der musikdramaturgisch raffiniert gebaute Psychothriller setzt auf fließende Übergänge und Kontraste, entwickelt auch deshalb seinen besonderen Reiz, weil der gegebene Ernst immer wieder gebrochen wird. Die Ironie, die vor allem in den nur für Nathanael sichtbaren Gespensterfiguren steckt, kommt in der atmosphärisch dichten und stimmigen Uraufführungsinszenierung schlagend zu Geltung.


Kreative Reibung mit optimalem Ergebnis

Die Produktion ist ein Musterbeispiel dafür, warum das Theater Basel zu Recht 2009 und 2010 von der internationalen Fachzeitschrift "Opernwelt" gleich zweimal hintereinander zum "Opernhaus des Jahres" gewählt wurde. Für das Auftragswerk an den aus Basel stammenden Komponisten wurden von der kompetenten Leitung des Hauses in allen Bereichen Künstler zusammengebracht, die durchaus auch in kreativer Reibung ein optimales Ergebnis erzielt haben.

Der Regisseur Christof Loy schaut wie immer den Figuren sehr genau in Herz und Hirn, führt sie in präziser Körpersprache, Mimik und Gestik in jenen Schwebezustand über dem Abgrund, der das Publikum bis zum bitteren Ende in Bann schlägt. Klaustrophobisch flach und finster ist die von gleißend hellem Neonlicht gerahmte Bühne Barbara Prals, wo in der subtilen Beleuchtung Stefan Bolliger wie von selbst alle Grenzen und Ebenen des Stücks verschwimmen. Dazu in fein differenzierender Schwarzweiß-Optik die Kostüme Ursula Renzenbrinks, mit einem rotem Knalleffekt.


Ein ja- und ach-sagendes Wunschweib

Dass bei der neunten und letzten "Sandmann"-Vorstellung einer der fünf Hauptsolisten nicht singen konnte, war zwar bitter für den Komponisten. Aber es führte dem am Ende einhellig begeisterten Publikum einmal mehr vor Augen und Ohren, wie komplex und fragil jeder Opernabend ist - erst recht eine Uraufführungsproduktion, für die es keine Einspringer gibt. Doch auch dieser "Sandmann" ging bravourös über die Bühne, weil man dem indisponierten Thomas Piffka die zwielichtige Vaterfigur auch gesprochen gut abnahm.

Was für ein tolles charaktertenorales Paar er zusammen mit Hans Schöpflin als Coppelius geben würde, konnten sich fantasiebegabte Ohren durchaus ausmalen. Marko Spehar hingegen orgelte mit ganz realer Bassestiefe den einzig normalen Mann auf der Bühne, nämlich Claras Bruder Lothar. Die sängerdarstellerisch fabelhafte Sopranistin Agneta Eichenholz in der Doppelrolle als Vernunftfrau Clara bzw. als ja- und ach-sagendes Wunschweibchen Clarissa wurde ebenso gefeiert wie Bariton Ryan McKinnys in jeder Hinsicht eindrücklicher Nathanael.

Zarte und brachiale Klangwelten

Die versierten, von Henryk Polus präzise einstudierten Choristen und die stark geforderten Instrumentalisten unter der einfühlsamen Leitung von Tomas Hanus schafften es vorzüglich, die faszinierenden atonalen Klangwelten zart aufblühen und brachial aufbrechen zu lassen, die der Komponist immerhin zur Hälfte nicht in Basel, sondern in Bamberg notiert hat.

Apropos: E.T.A. Hoffmann, dessen hingekauerte Gestalt ich gegen Ende der Vorstellung für etliche Zeit auf der Bühne wähnte, war dann doch nur ein Ausfluss meiner Fantasie und erwies sich als ein Stück vom Kabel, das die zwei unheimlichen Alten der Clarissa aus ihrem Automatenleib gezogen hatten. Scartazzinis Oper funktioniert! Auch sein "Sandmann" steht auf surrealem, schwankenden Boden und streut uns einen Sand in die Augen, von dem man gerne noch mehr hätte.

Bleibt noch anzumerken, dass dreißig weitere Dernieren-Besucher aus Bamberg beglückt waren: über die neue Oper und die vom Künstlerhaus und der Buchhandlung Collibri perfekt organisierte Fahrt, die mit einem Ausstellungsbesuch in der Fondation Beyeler, mit dem E.T.A. Hoffmann vorlesenden Andreas Ulich und dem sich allen Fragen stellenden Komponisten zum schaurig-schönen kulturellen Vorweihnachtsmärchen wurde.