[Interview] Fanexperte Groll über Proteste, Gewalt und Kommerzialisierung im Fußball
Autor: Redaktion
Bamberg, Donnerstag, 01. Juni 2017
Pyrotechnik, Randale, Tritte gegen Polizisten - Fanexperte Volker Groll über Fehlentwicklungen im Fußball, die Relegation und Helene Fischer.
In den entscheidenden Tagen dieser Saison im Profifußball sorgten auch Fanausschreitungen für Aufsehen. Ihren vorläufigen Höhepunkt erreichten sie am Dienstagabend im Relegationsspiel um einen Zweitligaplatz zwischen dem TSV 1860 München und Jahn Regensburg in der Allianz Arena.
Bei einem 0:2-Rückstand begannen ab der 80. Minute Anhänger der Münchner Löwen Gegenstände aufs Spielfeld zu werfen, darunter Stangen und Plastiksitze. Ein großes Polizeiaufgebot rückte vor die Fankurve, das Spiel wurde für eine knappe Viertelstunde unterbrochen. Mehrere Polizisten wurden leicht verletzt.
Der DFB hat Ermittlungen aufgenommen, auf den TSV dürfte eine erhebliche Strafe zukommen. Auch der bayerische Innenminister Joachim Herrmann kritisierte die Randale scharf, er forderte den DFB auf, gegen die gewalttätigen Fans lang anhaltende Stadionverbote auszusprechen.
Volker Goll verfolgt all diese Entwicklungen aufmerksam, hält sie aber für keine neue Dimension. Der 55-jährige Unterfranke aus Kahl ist stellvertretender Leiter der Koordinationsstelle Fanprojekte (KOS) in Frankfurt. Derzeit werden an 58 Standorten in Deutschland 65 Fanszenen betreut. Neben der Beratung und Begleitung dieser Fanprojekte ist die KOS auch Ansprechpartner für Fußball-Institutionen, die Politik oder der Polizei. Im Interview mit dieser Redaktion spricht Goll über die jüngsten Auswüchse bei den Spielen in Berlin, Braunschweig und München, über Fehlentwicklungen im Fußball und über Sängerin Helene Fischer.
Aufmarsch von Dynamo-Dresden-Fans im Camouflage-Outfit, Pyro-Feuerwerk beim Pokalfinale in Berlin, Platzsturm von Fans in Braunschweig, Ausschreitungen von Löwen-Fans. Erleben wir gerade eine neue Dimension im Fußball?
Volker Goll: Es ist so, dass die aktuellsten Bilder am stärksten wirken und eine gebotene Einordnung überlagern, und die aktuellsten Bilder sind die von den Vorfällen in München. Es lohnt sich, die Spiele und Vorkommnisse einzeln anzuschauen und zu bewerten.
Bitte.
Zunächst: Die Pyros der Dortmunder und Frankfurter Fans beim Pokalfinale in Berlin stellten keine Gewalt dar, sondern eine massive und natürlich illegale Protestform der Fans gegen die Ignoranz der Verbände, aus dem Gefühl heraus, dass immer weniger auf die Interessen der Fans eingegangen wird. Noch deutlicher wurde das neulich in Karlsruhe, beim Marsch der Dresdener Ultras. Diese Fans beklagen, dass nicht mit ihnen geredet wird, dass sie kein Gehör mehr finden. Sie fühlen sich im zunehmend kommerzialisierten Fußballbetrieb an den Rand gedrängt. In Braunschweig wird man darüber sprechen, ob es angebracht war, die Tore zu öffnen, so dass noch mehr Fans auf das Spielfeld stürmen konnten. Die Polizeipräsenz auf dem Feld unterband aber jede weitere gewalttätige Aktion. Böllerwürfe werden von 99 Prozent aller Fans verurteilt.
Eskalation war bei 1860 abzusehen
Schlimmere Szenen folgten dann anderntags in München beim Relegationsrückspiel der Löwen gegen Jahn Regensburg.Bitte nicht falsch verstehen. Ich verurteile Gewalt. Aber bei dem Mist, der von den Verantwortlichen beim TSV 1860 München über Jahre hinweg gemacht wurde, war es abzusehen, dass irgendwann etwas eskaliert. Für viele Fans sind der Fußball, die Liebe zu ihrem Verein elementare Bestandteile ihres Lebens. Es geht um die Ängste, dass ihr Verein kaputtgemacht wird. Das ist ein Erklärungsansatz, ich toleriere die Gewalt nicht.
Es wurden Stangen, Steine und Sitze auf Polizisten, Ordner und Spieler geworfen. Es waren skandalöse Ereignisse.
Da wurde sicher eine Grenze überschritten. Ich erkenne aber kein fußballspezifisches Problem, sondern generell ein gesellschaftliches. Der schwindende Respekt gegenüber Mitmenschen ist eine bedauernswerte Entwicklung, die ich leider auch in anderen Bereichen des Lebens zunehmend registriere. Ich hoffe, dass die Ereignisse zu einem notwendigen Diskurs und zur Einsicht führen, dass es so nicht weitergehen kann. Dass man innehält und sein Verhalten hinterfragt.
Hätte das Spiel nicht abgebrochen werden müssen? Schließlich wurden auch nach der Unterbrechung noch Gegenstände auf Menschen und aufs Spielfeld geworfen.
Ja, das kann man so sehen. Es war sicher grenzwertig, das Spiel fortzusetzen, aber so eine Entscheidung ist keine einfache und ich weiß nicht, wer von uns sich darum reißt, so eine Entscheidung in die eine oder andere Richtung zu fällen. Aber es ist Spekulation, was nach einem Abbruch passiert wäre.
Relegation: Künstliche Zuspitzung aufgrund Vermarktungszwecke
Es gibt Forderungen aus dem Sport, die Relegation abzuschaffen. Ist das nicht der falsche Ansatz?Im Sport gibt es immer Entscheidungen, Sieger und Verlierer, das ist schon klar. Aber diese künstliche Zuspitzung zu Vermarktungszwecken brauchen wir meiner Meinung nach nicht. In der Regionalliga gibt es zudem die bizarre Situation, dass der Meister nicht automatisch aufsteigt. Das schafft Verdruss. Ich persönlich finde, die Relegation gehört abgeschafft.
Die Bilder von Polizisten, die ihre Köpfe für die Durchführung von Fußballspielen hinhalten müssen, wird auch die Diskussion um die Finanzierung der Polizeieinsätze wieder aufflammen lassen.
Das ist zu befürchten, geht aber am Problem vorbei. Wenn es um die Bestrafung von Tätern im Stadion oder die Durchsetzung von Regressforderungen geht, so ist das auch mit der heutigen Rechtslage möglich. Die Forderung nach einer Finanzierung durch Verbände oder Vereine kommt aus dem innenpolitischen Bereich mit dem Argument, dass der Aufwand angesichts anderer Probleme der inneren Sicherheit nicht mehr geleistet werden könne. Ich halte davon nichts: Die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit ist keine Privataufgabe.
Der Staat und somit die öffentliche Hand soll den Betrieb eines Milliardengeschäftes schützen?
Das ist eine komplexe Diskussion. Natürlich muss man überlegen, ob es sinnvoll ist, wenn der Staat den Stadionausbau oder die Infrastruktur eines Profiklubs finanziert. Letztlich kann das ganze System hinterfragt werden. Der Protest der Fans richtet sich ja gerade gegen die tendenziellen Fehlentwicklungen im Fußball. Es muss sich etwas ändern.
Verbände sind nicht glaubwürdig
Aber die Verbände wie FIFA oder DFB, die etwas ändern könnten, stehen nach diversen Skandalen selbst beschmutzt da.Das ist das Grundproblem. Ich erkenne in den Verbänden keine Glaubwürdigkeit. Es kommt mir vor wie in der Kindererziehung: Wie sollen Eltern etwas erreichen, wenn sie selbst permanent ihre Grundsätze brechen? Nur wenn die Verbände endlich transparent und selbstkritisch arbeiten, besteht eine Chance zur Umkehr.
Trotzdem boomt das Geschäft mit dem Fußball, die Stadien in den Profiligen in Deutschland sind meist voll.
Ja, da erkenne ich einen absurden Widerspruch zur Haltung vieler Fans, die den Verantwortlichen keine fünf Meter über den Weg trauen, aber trotzdem ins Stadion rennen und das Geschäft damit befeuern.
Ausdruck sind dann Gewalt oder Pfiffe gegen die Sängerin Helene Fischer in der Halbzeitpause des Pokalfinales.
Mein Gott, früher ist Franz Lambert mit seiner Orgel in der Pause um die Tartanbahn gefahren worden. Die Fans in Berlin hätten auch gepfiffen, wenn die Scorpions gespielt hätten. Es ging nicht gegen Helene Fischer, sondern gegen die gesamte Inszenierung eines Fußballspiels mit Glitzer und Glamour. Wir haben ein Endspiel und damit zwei gleich große Fangruppen und ein Maximum an Spannung, Stimmung und Emotionen. Wieso muss all das noch als Show-Act aufgeblasen werden? An dieser künstlichen Inszenierung macht sich die Kritik fest. Ein Spektakel ist nicht nötig, das Spektakel ist ja schon da, es ist das Fußballspiel.
Die Inszenierung betreiben aber auch die Klubs: Beim FC Bayern München sang in der Halbzeitpause Anastacia und bei der anschließenden Meisterfeier wurde Weißbier aus Gläsern verschüttet, an denen kleine Kameras geklebt waren.
Ich hoffe, der FC Bayern hat schon selbst gemerkt, dass er damit überzogen hat. Bierduschen als Werbeevent sind schon sehr befremdlich. Es gibt aber keine Regel, dass immer alles schlimmer wird. Die lebendigen Diskussionen zeigen das doch. Im Übrigen sind es gerade diese Diskussionen, die den Fußball oft bedeutender machen als er ist. Letztlich gibt es existenziellere Probleme auf der Welt als Weißbierduschen oder Helene Fischer.
Das Gespräch führte
Achim Muth.